Graphic Novel

Graphic Novel „Exodus“: Nazi-Terror aus der Perspektive eines Kindes

Anton Maegerle15. Juni 2020
Ein autobiografischer Roman als Bildergeschichte: In der Graphic Novel „Exodus“ erzählt die israelische Autorin Esther Shakine, wie sie den Holocaust überlebte und nach Isreal emigrierte. Ein Buch für Kinder und Erwachsene.
Autobiografische Geschichte in Comic-Form: In „Exodus“ erzählt die  israelische Autorin Esther Shakine, wie sie den Holocaust überlebte.
Autobiografische Geschichte in Comic-Form: In „Exodus“ erzählt die israelische Autorin Esther Shakine, wie sie den Holocaust überlebte.

In der bewegenden Graphic Novel „Exodus“ schildert die in Ungarn geborene israelische Autorin Esther Shakine ihre Kindheit und Jugend. Anhand des kleinen Mädchens Ticka erzählt Shakine ihr eigenes Schicksal. Nach der Deportation ihrer Eltern überlebte sie den Holocaust und den braunen Terror, emigrierte in den gerade gegründeten Staat Israel und wuchs in einem Kibbuz auf.

Ab dem fünften Geburtstag nimmt der Leser am Schicksal von Ticka teil. Bald endet die unbeschwerte Kindheit des Mädchens, das eigentlich ein Junge sein und Fußball spielen will. Der Tag nach dem nichts mehr war wie zuvor, beginnt als die Mutter einen gelben Stern auf ihr Kleid nähen muss. „Ich habe sie gefragt: ‚Warum machst du das?‘ ‚Weil wir Juden sind‘, hat sie geantwortet. ‚Sie zwingen uns, diesen Stern zu tragen.‘“

Nach der Verschleppung ihrer Eltern durch die Nazis ist Ticka mit anderen verwaisten Kindern auf sich selbst gestellt. Sie findet Unterschlupf in einem Kloster, fährt als vermeintlich taubstummes Kind mit dem Zug quer durch Europa und geht im Juli 1947 in Frankreich an Bord der „Exodus“.

Die Flucht endet hinter Stacheldraht

Die dramatische Flucht an Bord der „Exodus“ nimmt einen breiten Raum in den Schilderungen ein. Unwillkürlich erinnert sich der Leser an den weithin bekannten gleichnamigen fast dreieinhalbstündigen US-amerikanischen Spielfilm aus dem Jahr 1960, der die Fahrt des Flüchtlingsschiffes „Exodus from Europe 1947“ (in der Regel zu „Exodus“ verkürzt) dramatisch vor Augen führt.

Nachdem britische Kriegsschiffe das Schiff aufgebracht haben, endet die Flucht aus den Trümmern der NS-Vernichtungsmaschinerie für die 4.500 jüdischen Häftlinge zwischen Stacheldraht und Wachtürmen – in Deutschland. Erst im Mai 1948 erreicht Ticka mit der „Andorra Panama“ Israel und wächst in einem Kibbuz auf: „Ich hatte das Gefühl, dass ich endlich angekommen war. ... Ich war glücklich. Aber ... ein wenig war mir zum Weinen zumute. Ich wünschte mir so sehr, dass Mama und Papa bei mir wären...“

Ein Buch für Kinder und Erwachsene

Esther Shakine, 1932 im ungarischen Szeged geboren, arbeitete nach dem Kunststudium in Tel Aviv als Malerin, Designerin und Illustratorin. Sie erhielt den Preis der Norman Arts Foundation und war unter anderem Vorsitzende der Israel Textile Artists Association.

Mit einer einzigartigen Kombination aus Originaltext und lebendigen, fiktiven Dialogen, eindrücklich und einfühlsam illustriert („Diese schrecklichen Stiefel ... schnell, nichts wie weg!!“), ist Shakine eine Graphic Novel gelungen, die der Verharmlosung des NS-Terrors als banalen „Vogelschiss“ wort-u. bildstark entgegentritt. „Exodus“ richtet sich an Kinder ab acht Jahren ebenso wie an Erwachsene.

Das Genre Graphic Novel steht als Inbegriff für einen gezeichneten Roman für Erwachsene. Dass er viel mehr sein und Schrecken wie Vergangenheit quasi „spielerisch“ näher bringen kann und sich so auch an jüngere Leser*innen wendet, dafür steht „Exodus“ exemplarisch. Shakine ist es gelungen
aus der kindlichen Perspektive die Terrortaten des Nationalsozialismus, die Verfolgung der Juden, Heimatlosigkeit lebendig darzustellen und zugleich Zivilcourage, Hoffnung und Menschlichkeit zu thematisieren.

Neue Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Den Holocaust mittels einer Graphic Novel darzustellen, ist erstmals Art Spiegelman mit seinem Buch „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“, der authentischen Lebensgeschichte des polnischen Juden und Auschwitz-Häftlings Wladek Spiegelman, in den 1980er Jahre gelungen.

Der Kunstform Bildgeschichte ist eine breite öffentliche Akzeptanz als möglicher Weg zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem industriell betriebenen Massenmord an Juden zu wünschen.

Esther Shakine: Exodus, Klinkhardt & Biermann Verlag 2020. 15 Euro, ISBN: 978-3-943616-72-9

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