Vergessene Sozialdemokrat*innen

Emil Kirschmann: Koordinator des Widerstands gegen die Nazis

Lothar Pollähne13. November 2023
Zeit seines Lebens ein eigenwilliger Mann: Sozialdemokrat Emil Kirschmann
Zeit seines Lebens ein eigenwilliger Mann: Sozialdemokrat Emil Kirschmann (um 1928)
Als „Grenzsekretär“ der Exil-SPD organisiert er den Widerstand gegen die Nazis im Saarland. Über Frankreich flieht Emil Kirschmann im Krieg in die USA und kann nicht mehr zurückkehren. Einer berühmten Sozialdemokratin bleibt er dabei stets verbunden.

Am 12. November 1933 lässt Adolf Hitler in Deutschland Reichstagswahlen inszenieren, bei denen es nichts zu wählen gibt außer der Nazi-Partei. Das deutsche Reich ist gerade aus dem Völkerbund ausgetreten und außenpolitisch isoliert. In der Scheinwahl wird außerdem die Vertrauensfrage gestellt, um zu sehen, ob die Bevölkerung Hitlers Kurs mitträgt. Nennenswerten Widerstand muss die Nazi-Partei nicht fürchten. Parteien gibt es nicht mehr, und die wenigen Widerstandsgruppen, wie die „Sozialistische Front“ in Hannover, sind lokal begrenzt und kaum vernetzt.

Auch dem sozialdemokratischen Exilvorstand, der „SoPaDe“ in Prag, ist nach Monaten falscher Erwartungen klar geworden, dass er kaum Einfluss nehmen kann. Einzig in den Grenzregionen des Reiches verfügt sie mit ihren Grenzsekretariaten über mehr oder weniger arbeitsfähige Organisationen. Die dienen als kleine Schaltstellen für die Informationen der „SoPaDe“. Im Vorfeld der Scheinwahl vom 12. November 1933 versucht sie, Boykottaufrufe ins Reich zu bringen. Der Südwesten Deutschlands spielt dabei eine herausgehobene Rolle, denn Luxemburg ist unabhängig, und das Saarland steht noch unter Völkerbundsmandat. Von dort aus agiert ein Grenzsekretär mit dem parteiinternen Tarnnamen „Stift“, und der kennt in der Grenzregion jeden noch so kleinen Pfad.

50.000 Flugblätter gegen die Scheinwahl

„Stift“ heißt mit Klarnamen Emil Kirschmann. Saarbrücken nutzt er als Drehkreuz für die Koordinierung von Widerstandsaktionen. Am 23. Oktober 1933 erhält Kirschmann einen Brief des „SoPaDe“-Vorstands in Prag, mit dem er beauftragt wird, in der Druckerei der „Saarbrücker Volksstimme“ 50.000 Flugblätter zu bestellen mit der Überschrift: „Parole am 12. November: Wahlzettel ungültig machen! Volksabstimmung. Nein!“ Emil Kirschmann, der neben der „SoPaDe“ für das Flugblatt verantwortlich zeichnet, ist mit seiner Verteilaktion so erfolgreich, dass die grenznahen Nazi-Dienststellen erst nach der Scheinwahl Bericht erstatten können.

Geboren wird Julius Emil Kirschmann am 13. November 1888 in Idar-Oberstein an der Grenze zum Saarland und wächst in einer sozialdemokratisch orientierten Familie auf. Nach dem Besuch der Volksschule lässt sich Kirschmann zum Handlungsgehilfen ausbilden. Bereits 1906 wird er Mitglied der SPD und des Handlungsgehilfenverbandes. 1912 lässt sich Emil Kirschmann in Köln nieder, wo er zunächst in der Verwaltung einer Konsumgenossenschaft tätig wird. Sein organisatorisches Talent und seine Redefähigkeit lassen ihn schnell aufsteigen. Kirschmann wird Leiter einer genossenschaftlichen Versicherung und Sekretär im Handlungsgehilfenverband.

Als Redakteur in den Reichstag

Nach seiner Dienstzeit als Soldat im Weltkrieg macht Emil Kirschmann zwei wichtige Schritte in der Parteihierarchie: Er wird Redakteur der sozialdemokratischen „Rheinischen Zeitung“ in Köln und Mitglied im Vorstand des SPD-Bezirks „Obere Rheinprovinz“. 1922 heiratet Emil Kirschmann die preußische Landtagsabgeordnete Elisabeth Röhl, die Schwester von Marie Juchacz. 1924 zieht Kirschmann für den Wahlkreis „Koblenz-Trier-Birkenfeld“ in den Reichstag ein und kehrt damit zu seinen Wurzeln zurück, denn seine Geburtsstadt Idar-Oberstein liegt im Kreis Birkenfeld. Seinen Lebensmittelpunkt allerdings behält Kirschmann in Köln.

1926 wird er zum Ministerialrat im preußischen Innenministerium ernannt und mit der Betreuung des deutsch-französischen Grenzgebiets betraut. Gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth und Marie Juchacz erwirbt Emil Kirschmann in Berlin-Köpenick ein Haus und bildet eine Doppelfamilie, wie es Elisabeths Sohn Fritzmichael später ausdrückt. Am 21. September1930 stirbt Elisabeth Kirschmann-Röhl an einer Blutvergiftung.

Koordinator des Widerstands

Emil Kirschmann ist Zeit seines Lebens ein eigenwilliger Mann. Mit dem Erstarken der Nazis wird er innerhalb der Partei zum Propagandisten der Idee einer antifaschistischen Einheitsfront. Gemeinsam mit seinem Reichstagskollegen Carlo Mierendorff versucht Kirschmann über den kommunistischen Verleger Willi Münzenberg, entsprechende Kontakte zur Führung der KPD aufzunehmen. Das ist zum Scheitern verurteilt, denn die Führung der KPD hält die SPD in bornierter Einfältigkeit für „Sozialfaschisten“. 1932 wird Emil Kirschmann im Zuge des „Preußenschlags“ als Ministerialrat entlassen. Im Mai 1933 überfallen die Nazis Emil Kirschmanns Wohnung in Köln. Kirschmann befindet sich zu diesem Zeitpunkt im Saarland und entscheidet, dort ins Exil zu gehen, da ihm die Rückkehr nach Deutschland zu gefährlich erscheint.

Zwei Jahre lang wird das Saarland zum wichtigsten Fluchtpunkt für Verfolgte des Nazi-Regimes. Emil Kirschmann koordiniert gemeinsam mit seiner Schwägerin Marie Juchacz die Flüchtlingsarbeit, die Widerstandstätigkeit in den südwestdeutschen Grenzgebieten und die Arbeit der sozialdemokratischen Grenzsekretariate. Zusätzlich redigiert er die von der „SoPaDe“ herausgegebene Zeitung „Deutsche Freiheit“ und organisiert deren Vertrieb. 1933 übernimmt Emil Kirschmann den Posten des saarländischen SPD-Sekretärs und wird damit zum wichtigsten Ansprechpartner der Parteiführung im Prager Exil.

Als die Nazis und die ihr nahe stehenden nationalen Kräfte Mitte 1934 einen Volksentscheid für den Anschluss des Saarlands an das Deutsche Reich auf den Weg bringen, gelingt es Emil Kirschmann, SPD und KPD zu einer saarländischen Einheitsfront zusammenzuschließen. Damit gerät er in einen Konflikt mit der „SoPaDe“ und wird als Grenzsekretär entlassen. Den Anschluss kann die Einheitsfront nicht verhindern, und Emil Kirschmann flieht 1935 mit seinen Mitarbeiter*innen nach Forbach in Lothringen. Mit Unterstützung des Internationalen Gewerkschaftsbundes richtet er dort eine „Beratungsstelle für Saarflüchtlinge“ ein.

Heimliche Flucht nach Übersee

1936 zieht Emil Kirschmann mit Marie Juchacz und seiner neuen Lebensgefährtin Käthe Fey nach Mühlhausen im Elsass, gibt die Zeitung „Freiheit-Korrespondenz“ heraus und koordiniert bis zum deutschen Überfalls auf Frankreich die Verbreitung von Flugblättern und Tarnschriften. 1938 gehört Emil Kirschmann gemeinsam mit Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Heinrich und Thomas Mann, Rudolf Breitscheid, Willy Brandt und Herbert Wehner zu den Erstunterzeichner des „Aufrufs an das deutsche Volk. Bildet eine deutsche Volksfront! Für Frieden, Freiheit und Brot!“

Nach einer kurzen Zwischenstation in Luxemburg, wo die „Freiheit-Korrespondenz“ mit Unterstützung der Metallarbeiter-Gewerkschaft noch eine Zeit lang wöchentlich erscheinen kann, flieht Emil Kirschmann gemeinsam mit Elisabeth Juchacz und Käthe Fey am 10. Mai 1940 nach Südfrankreich. Mit Hilfe von Fritz Heine gelingt der Gruppe am 14. Juni 1940 die Flucht aus Marseille. Kirschmann hat Glück, denn im Gegensatz zu Marie Juchacz und Käthe Fey, ist er nicht im Besitz eines Ausreisevisums. Ein französischer Oberst bringt ihn heimlich an Bord des Schiffes, das die Gruppe über Casablanca ins französische Übersee-Département Martinique fährt.

Im Tod findet die Doppelfamilie wieder zusammen

Sein letztes Exil findet Emil Kirschmann gemeinsam mit Marie Juchacz und Käthe Fey, die er 1948 heiratet, in New York City, wo er sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Politisch engagiert er sich im „German-American Council for the Liberation of Germany from Nazism“. Gemeinsam mit neun weiteren ehemaligen Reichstagsabgeordneten, darunter Siegfried Aufhäuser, Marie Juchacz und der ehemalige Chefredakteur des „Vorwärts“, Friedrich Stampfer, veröffentlicht Emil Kirschmann 1947 einen „Appell an Gewissen und Menschlichkeit“, mit dem gegen die Vertreibungs- und Demontagepolitik der Besatzungsmächte in Deutschland protestiert wird.

Nach Deutschland kann der große Grenzgänger Emil Kirschmann nicht mehr zurückkehren. Nach längerer Krankheit stirbt er am 11. April 1949 in New York City. Seine letzte Ruhestätte findet er im Grab seiner ersten Frau Elisabeth Kirschmann-Röhl in Köln. Auch Marie Juchacz wird 1956 dort beigesetzt und führt so im Tode die sozialistische Doppelfamilie wieder zusammen.

weiterführender Artikel