Filmtipp

„Miss Holocaust Survivor“: Überlebende der Shoa auf dem Laufsteg

Nils Michaelis10. November 2023
Vom Leben gezeichnet und doch guten Mutes: Rita Kasimow-Braun (vorne) und ihre Konkurrentinnen bei der Miss-Wahl.
Vom Leben gezeichnet und doch guten Mutes: Rita Kasimow-Braun (vorne) und ihre Konkurrentinnen bei der Miss-Wahl.
Als junge Frauen gingen sie durch die Hölle. Im hohen Alter erleben sie einen glamourösen Auftritt. Der Dokumentarfilm „Miss Holocaust Survivor“ begleitet zwölf israelische Seniorinnen bei einem polarisierenden Schönheitswettbewerb.

Bühne frei für ein besonderes Model. Ob Kleid, Bluse, Strümpfe oder Schuhe: Rita Kasimow-Braun trägt konsequent schwarz. Ein violett gemustertes Halstuch lockert ihren ebenso schlichten wie stilvollen Look auf. Im Rhythmus von Gloria Gaynors Disco-Hymne „I will survive” läuft die hochbetagte, aber geradezu jugendlich anmutende Dame tänzelnden Schrittes zum Bühnenrand und verbeugt sich.

Besonders ist auch der Anlass für diesen Auftritt. Bis zum Jahr 2021 fand im israelischen Haifa der Wettbewerb „Miss Holocaust Survivor“ statt. Bei dem jährlichen Catwalk von älteren Frauen, die die Shoa überlebt haben, ging es nicht um äußerliche Schönheit, zumindest nicht im landläufigen Sinne.

Der Ausscheid verstand sich als Feier des Lebens: Im Fokus stand die innere Schönheit von Frauen, die nur knapp dem Massenmord der Nazis entgangen waren und sich später ein neues Leben aufgebaut haben. Veranstaltet wurde das Ganze von einem Verein, der in Haifa ein Altenheim für Holocaustüberlebende unterhält.

Umstrittene Miss-Wahl

Rita Kasimow-Brauns Einsatz in der rappelvollen Eventhalle bringt also einen erschütternden Hintergrund mit sich. Gerade deswegen war dieser Schönheitswettbewerb in Israel äußerst umstritten. In unangemessenem Rahmen werden die Frauen und ihre Leidensgeschichte zur Schau gestellt, so der Vorwurf. Der internationalen Resonanz tat das keinen Abbruch.

Diese Ambivalenz fängt der Regisseur Radek Wegrzyn in seinem Dokumentarfilm subtil ein. Sein eigentliches Augenmerk gilt allerdings den zwölf Damen, die sich gegenüber der Jury und dem Publikum präsentieren. Die Kamera begleitet sie von den ersten Proben bis zum Wettkampftag. Drei von ihnen legen dabei Zeugnis darüber ab, wie sie die Shoa er- und überlebten. Zu ihnen kehrt die Erzählung nach wuseligen Szenen hinter der Bühne immer wieder zurück. Diese dramaturgischen und inhaltlichen Kontraste sorgen trotz des ruhigen Erzählflusses für Dynamik.

Nach ihrer Befreiung aus den Lagern der Nazis blieb diesen Frauen zunächst kaum Kraft und Zeit, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Fast 80 Jahre später sind Terror, Mord und Todesangst präsenter denn je. Ihre Geschichten sind so verschieden wie ihre Lebenswege und ihr Habitus. Und doch lassen sich Parallelen erkennen.

Ein Leben wie im Grab

In plastischen Anekdoten gibt Rita Kasimow-Braun wieder, wie sich mit ihrer Familie in Polen gut eineinhalb Jahre in einer Erdgrube unter einem Stall verstecken musste. Dieses Dasein wie in einem Grab brachte ihr die Rettung. Später ging sie in die USA und arbeitete als Religionslehrerin, Psychologin, Sexualtherapeutin und Malerin. Wie so viele andere Holocaustüberlebende in Israel ist auch sie von Altersarmut betroffen. Das besagte Seniorenheim ermöglicht ihr einen Lebensabend in Würde.

Allein dieses Leben ist schon filmreif. Wohl auch deswegen und wegen ihres äußerst präzisen, auch von Tagebucheinträgen gefütterten Erinnerungsvermögens gibt Radek Wegrzyn dieser Zeitzeugin nicht nur in Gesprächssequenzen, sondern auch in nachgestellten Szenen breiten Raum.

Rache an den Nazis

Auch Tova Ringer zeigt in den stillen Interview-Momenten, wie die Zeit des Genozids sie für immer gezeichnet hat.  Nach ihrer Befreiung baute sie sich in Israel eine neue Familie auf. Darin fand sie ihre Erfüllung. Es war ihre Weise, sich an den Nazis zu rächen.

Der Film bringt einen häufig zum Schmunzeln, was angesichts der Thematik überrascht. Ihm gelingt ein heikler und ungewöhnlicher Spagat. Mit viel Empathie, aber auch Humor macht er unvorstellbares Leid und verschlungene Wege zurück ins Leben anschaulich.

Hinzu kommen die trockenen und treffsicheren Pointen der Auftretenden im Kontext der Miss-Wahl. „Geh nicht wie ein Soldat“, wird Rita Kasimow-Braun während einer Probe scherzhaft angeherrscht. Solche Momente sind prägend für die Tonalität des Ganzen. Fast ließe sich von einer leichten Form sprechen, die berührende Einblicke in die Erfahrungswelt der letzten Generation von Holocaust-Überlebenden bietet.

Spuren des Lebens

Zudem möchte „Miss Holocaust Survivor“ die besondere Schönheit von Frauen im fortgeschrittenen Alter würdigen, die nur selten vor der Kamera zu sehen sind. Auch dieser Ansatz findet Raum, und auch das auf eine unaufdringliche und dadurch umso wirkungsvollere Weise. Es ist eine zusätzliche Ebene, um von den Spuren des Lebens dieser gezeichneten Persönlichkeiten zu erzählen.

Mit dem präzisen Blick auf die Protagonistinnen werden psychologische Gemengelagen veranschaulicht, die komplexer und komplizierter kaum sein könnten. Nicht nur, aber auch in den nachdenklichen Gesprächsausschnitten liegt auch ein Appell an die Akteurinnen und Akteure der Gegenwart. Letztere hat sich im Nahen Osten derzeit wieder einmal verdüstert. Umso wertvoller ist es, sich diese Feier des Lebens anzuschauen.

 

„Miss Holocaust Survivor“ (Deutschland 2019-2022), ein Film von Radek Wegrzyn, mit Rita Kasimow-Braun, Tova Ringer, Madeleine Schwartz u.a.,

http://farbfilm-verleih.de/filme/miss-holocaust-survivor/

 

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