Das rote Buch

Michael Sandels Suche nach den Gründen für die große Unzufriedenheit

Michael Bröning12. Juli 2023
In seinem grundlegenden überarbeiteten Standardwerk „Das Unbehagen in der Demokratie“ geht der amerikanische Philosoph der Frage nach, woher die Unzufriedenheit in vielen westlichen Demokratien kommt. Die Antworten sind stichhaltig, führen aber auch zu neuen Fragen.
Michael Sandel Das Unbehagen in der Demokratie

„Unser staatsbürgerliches Leben läuft nicht sonderlich gut“: Diesen Satz stellt Michael J. Sandel an den Beginn seines nun erstmals auf Deutsch vorliegenden aktualisierten Klassikers „Das Unbehagen in der Demokratie“. Wohl wahr: In den USA greift Donald Trump erneut nach dem Weißen Haus, in Paris brennen die Barrikaden und in Deutschland eilt die extreme Rechte von einem Umfragehoch zum nächsten. „Nicht sonderlich gut?“. Das ist die Untertreibung des Jahres.

Der „Rockstar der Moral“

Der Sozialdemokratie in Deutschland ist der US-Philosoph Sandel spätestens seit einem gemeinsamen Auftritt mit Olaf Scholz beim Debattencamp 2020 ein Begriff. Und seit dem engagierten Zoom-Austausch über Gerechtigkeit, und Aufstiegschancen wird Sandel von Berliner Medien gerne Mal als „Philosoph des Kanzlers“ vorgestellt. Zugleich gilt der Harvard Professor international Dank enorm erfolgreicher YouTube-Videos zu Fragen der Gerechtigkeit als „Rockstar der Moral“. Das muss man erst einmal hinbekommen als politischer Philosoph.

Sandels nun erschienener Text debattiert mit großer Klarsicht die Frage: „Wie können wir die Wirtschaft so reformieren, dass sie demokratischer Kontrolle zugänglich wird? Und wie können wir unser gesellschaftliches Leben wieder so aufbauen, dass die Polarisierung abgeschwächt wird“. Besonders pointiert wird das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus dabei in einem neuen Epilog diskutiert. „Was falsch lief“, lautet der Titel. Hier liest sich Sandels Analyse wie eine Besichtigungstour zu den Abgründen marktgetriebener Globalisierung, unregulierter Finanzmärkte und den Untiefen einer trügerischen Leistungsgesellschaft.

Die falschen Versprechen neoliberaler Dogmen

Wie der 1996 unter dem Titel „Democracy's Discontent“ erschienene Ursprungstext entlarvt auch die aktualisierte Fassung die falschen Versprechungen der von rechts (und allzu oft auch von links) propagierten neoliberalen Dogmen. Immer wieder bricht Sandel dabei mit dem Mythos, bei der marktgetriebenen Globalisierung und der Harmonisierung der Weltwirtschaft habe es sich um eine Naturgegebenheit gehandelt, die (wie der britische Premierminister Tony Blair einst erklärte) so unvermeidbar sei „wie das Folgen des Herbstes auf den Sommer“. Sandel zeigt: Die realexistierende Globalisierung war kein Naturereignis, sondern Politik. Und für Mittelschichten gerade in den USA war sie kein Herbst, sondern ein eiskalter Winter, der Millionen Arbeitsplätze vernichtete.

Ganz zu schweigen von der Entfesselung der Finanzmärkte. Sandel beschreibt den Gegensatz von Wallstreet und Main Street und die obszöne Kluft zwischen Manager- und Arbeitergehältern. Der Text belegt den Schaden entkoppelter Finanzspekulation und zeichnet wie in einem Krimidrehbuch die Finanzkrise des Jahres 2008 nach. Abertausende verloren ihre Häuser doch die Manager-Boni erklommen ungeahnte Höhen – spendiert von der Allgemeinheit.

Besonderes Augenmerk legt Sandel auf die Frage, welche Rolle soziale Abstiegsängste in der anhaltenden populistischen Revolte von Rechts spielen. Dabei lesen sich seine Thesen aus den 1990er Jahren heute wie eine Prophezeiung tatsächlich eingetretener Ereignisse.

Die Grundlage für Unzufriedenheit

Kluger Kern der Diagnose ist dabei die selbstkritische Einsicht, dass der Erfolg des nationalistischen Populismus letztlich „ein Symptom für das Scheitern fortschrittlicher Politik“ darstellt. Denn wenn es progressiven Kräften nicht gelingt, wirtschaftliche Macht demokratisch zu kontrollieren und auch gemeinschaftlichen Sinn zu stiften, werden diese Politikfelder an die Populisten abgetreten.

Dass gerade Lösungsversuche von rechts scheitern, schmälere dabei nicht deren Wirkmächtigkeit. Beispiel Trump: Nach dessen Wahlsieg krümmte dieser bekanntlich keinen Finger, um die Wallstreet einzuhegen. Dafür wurden Arbeitnehmerrechte gestrichen, die Gesundheitsfürsorge heruntergefahren und Spitzenverdiener freuten sich über Steuersenkungen. Das bezeichnende Paradox: Auch und gerade der vermeintliche Anwalt der einfachen Leute ließ die Bewohner der Mainstreet im Regen stehen.

Damit bestätigte letztlich auch Trump den Befund Sandels, dass weite Teile der US-Öffentlichkeit seit Jahren darunter leiden, kein Gehör mehr zu finden. Der verbreitete Eindruck, dass „die eigene Stimme keine Rolle spielt“, liege der Unzufriedenheit zu Grunde.

Es bleibt Raum für Fragen

Sandels Antworten laufen auf eine vollumfängliche Rehabilitation des Staates und ein Ende der „geschrumpften Vorstellung von Politik“ hinaus. Benötigt werde eine neue Debatte darüber, wie gesellschaftliche Güter zu bewerten sind und wie gute Arbeit und Teilhabe durch ein aktives Gemeinwesen sichergestellt werden können. Zentral hierfür ist Offenheit. Denn die Abwesenheit von Debatte laufe nur darauf hinaus, „dass die Märkte diese Fragen beantworten“ – und zwar gegen die Interessen der Mehrheiten.

Einerseits scheint Sandels Analyse heute aktueller denn je. Und übertragen nach Europa klingt vieles wie gut sozialdemokratische Politik. Kein Wunder also, dass der Autor bis hinein ins Kanzleramt auf offene Ohren stößt. 

Doch bei aller Klarheit bleibt auch Raum für Fragen. Ab wann ist ein starker Staat zu stark? Wie realistisch ist die Vision einer verbindlichen gesellschaftlichen Einigung über das Gemeinwohl? Und: Liefert die fast ausschließlich ökonomische Betrachtung des „Was falsch lief“ heute tatsächlich das nötige Sensorium zur Entkräftung der allgegenwärtigen Auseinandersetzungen auf der kulturellen Konfliktachse? Denn es ist ja zumindest fraglich, ob die weltweite rechtspopulistische Welle wirklich in erster Linie auf ökonomischer Abwertung beruht oder ob andere Aspekte eine nicht zumindest eine genau so wichtige Rolle spielen.

Natürlich bewirken die Kulturkämpfe vielerorts die Ablenkung der Massen von der Verteilungsfrage. Aber ist ein ausschließliches Befassen mit der Verteilungsfrage aus der Sicht der Betroffenen nicht ein spiegelbildliches Ablenken progressiver Kräfte von den Kulturkämpfen? Auf diese Fragen aber braucht es Antworten, keine Themenwechsel.

Wenn das so wäre, entspräche dieser blinde Fleck in Sandels rückwirkender Fehleranalyse ziemlich passgenau einer Leerstelle in fortschrittlichen Politikentwürfen, die auch mit der überzeugendsten Kritik an ungezügelten Märkten kaum zu schließen ist.

Michael J. Sandel: Das Unbehagen in der Demokratie. Was die ungezügelten Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben. S. Fischer Verlage 2023, 512 Seiten. 32 Euro, ISBN: 978-3-10-397498-0

Das rote Buch

An dieser Stelle stellt Buch-Kolumnist Michael Bröning in loser Folge aktuelle politische Literatur vor. Alle Texte finden Sie hier.

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