Migration

Warum wir eine andere Tonlage in der Geflüchteten-Debatte brauchen

Christian Wolff08. November 2023
Befeuert vom rechten Rand hat sich die Debatte über Geflüchtete in Deutschland in den vergangenen Monaten verschärft. Dabei droht der Blick für das Wesentliche verloren zu gehen.

Seit Monaten tönt es fast unisono aus dem politischen Bereich: Wir sind „am Limit“ … Städte und Gemeinden können nicht mehr … die Grenze der Aufnahmekapazität ist erreicht … es kommen zu viele Geflüchtete … die Integration ist gescheitert – von der menschenverachtenden Rhetorik der AfD ganz zu schweigen. Doch die Rechtsnationalisten können sich die Hände reiben. Denn dass es „am besten“ wäre, wenn Deutschland gar keine Geflüchteten mehr aufnimmt, gehört zum Standard-Narrativ der AfD: „Ihr habt hier keinen Platz“, so die Botschaft von Alexander Gauland (AfD) schon 2017.

Nur die wenigsten Flüchtenden landen in Europa

Merkwürdig ist nur: Viele Bürger*innen nehmen bis heute im Alltag gar nicht wahr, dass jetzt vermehrt Geflüchtete aufgenommen werden. Sie, d.h. der Teil, der auf AfD-Propaganda positiv reagiert, wird nur „wach“, wenn sie darauf gestoßen werden, dass in ihrem Stadtteil Geflüchtete untergebracht werden sollen. Dieses „Stoßen“ hängt aber ganz wesentlich davon ab, wie in einer Ortschaft, in einem Stadtteil über Geflüchtete geredet, kommuniziert wird: ob sich Bürger*innen von Rechtsnationalisten zu Demos und Kundgebungen mobilisieren oder zum ehrenamtlichen Engagement ermuntern lassen.

Festzuhalten gilt: Dass sich Menschen aus aller Welt auf die Flucht begeben und nach Europa wollen, hat seine Ursache vor allem in

  • grausamen Diktaturen in den Heimatländern,
  • Krieg im eigenen Land,
  • Klimakatastrophen: Fluten, Dürren und in deren Folge Hunger.

Ebenso gilt festzuhalten: Die meisten Menschen, die vor Hunger, Krieg, Verfolgung flüchten, suchen in unmittelbarer Umgebung/Nachbarländern Schutz und bessere Lebensverhältnisse. Nur ein kleiner Teil der 100.000.000 Menschen, die sich derzeit auf der Flucht befinden, gelangt nach Europa.

Nicht die Geflüchteten tragen die Schuld für ihre Flucht

Das bedeutet: Die Länder der EU hatten Jahrzehnte Zeit, um durch eine aktive Klima- und Friedenspolitik einen signifikanten Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu leisten. Auf diesem Gebiet ist aber wenig bis kaum etwas geschehen – man denke nur an den 20-jährigen Afghanistan-Krieg mit seinem katastrophalen Ende. Da die Kriege aber immer näher an uns heranrücken (der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der Terror von radikal-islamistischen Gruppen wie Hamas und Hisbollah im arabischen Raum) und weltweit immer mehr autokratische Systeme ein friedliches Zusammenleben zerstören, ist es kein Wunder, dass mehr Menschen Schutz in Ländern der Europäischen Union suchen.

Unabhängig davon, dass natürlich nicht alle, die sich weltweit auf die Flucht begeben, in Deutschland aufgenommen werden können, darf nicht den Geflüchteten die Schuld für ihre Flucht aufgebürdet werden. Doch genauso verläuft die Debatte bei uns. Immer mehr setzt sich der Zungenschlag durch: Ihr, die Geflüchteten, seid die Ursache dafür, dass bei uns die Stimmung schlecht ist, die Rechtsnationalisten Zulauf haben, sich der Wohnraum verknappt, zu wenig Lehrer*innen zur Verfügung stehen, Turnhallen belegt werden, die Kriminalität wächst, der Antisemitismus steigt, und … und … und …

Was in der Debatte vergessen wird

Völlig vergessen wird derzeit: Dass in einigen Gemeinden und Städten die Aufnahmekapazität an ihre Grenzen gerät, liegt nicht so sehr an der aktuellen Anzahl von Geflüchteten, sondern vor allem an der absolut notwendigen Aufnahme von ca. einer Million Menschen aus der Ukraine. Vergessen wird aber auch – und das sollten sich die Herren Merz, Lindner und Buschmann einmal fragen, bevor sie die nächste Breitseite gegen Geflüchtete loslassen: Wer reinigt eigentlich ihre Büros? Wer schleppt ihnen die Pakete von Amazon, UPS, Hermes oder DHL bis vor die Wohnungstür? Wer sorgt dafür, dass derzeit nicht noch mehr Bus- und Straßenbahnlinien von den kommunalen Verkehrsbetrieben nicht bedient werden können? Es sind zum größten Teil Geflüchtete.

Sie haben dafür gesorgt, dass in der Corona-Zeit die Logistik nicht zusammengebrochen ist. Doch davon ist derzeit genauso wenig die Rede wie davon, dass es in den vergangenen Monaten weder dem Bundespräsidenten oder Bundeskanzler, noch irgendeinem/einer Ministerpräsidenten/in oder Oberbürgermeister*in, von führenden Politiker*innen in den Parteien ganz zu schweigen, in den Sinn gekommen wäre, sich hörbar und zuerst bei den Hunderten Initiativen und Tausenden Bürger*innen in ganz Deutschland zu bedanken, die Tag für Tag Geflüchteten beistehen, sie bei Behördengängen begleiten, ihnen bei der Integration behilflich sind, Sprachunterricht erteilen, ihnen den Rücken stärken. Ohne dieses seit Jahren andauernde ehrenamtliche Engagement der Vielen hätten wir tatsächlich eine Migrationskrise. Doch davon ist seit Monaten mit keiner Silbe die Rede. Stattdessen erhalten sie ungesagt die bittere Botschaft: Ihr engagiert euch für die Falschen.

Die Menschenwürde der Geflüchteten in den Blick nehmen

Ebenso ist es reine Augenwischerei, die Zahl von Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen, dadurch reduzieren zu wollen, dass man sog. „Anreize“ oder „Pullfaktoren“ beseitigt. Gemeint sind dann Sozialleistungen für Geflüchtete. Die Vorstellung, dass sich in Somalia jemand deswegen auf die Flucht begibt, weil er in Deutschland ein paar Euro mehr Sozialleistungen als in einem anderen EU-Land bekommt, bzw. abgeschreckt wird, weil nun eine sog. „Bezahlkarte“ eingeführt werden soll, ist geradezu irrig – und sagt eine Menge über das Neid-Denken eines Herrn Merz und Panikattacken von Politiker*innen aus, denen der Kompass verlorengegangen ist.

Der größte Anreiz für Geflüchtete, sich auf den Weg nach Europa, nach Deutschland zu machen, ist trotz aller Einschränkungen die Aussicht, hier angstfrei und in Frieden leben zu können, Demokratie zu erfahren, Meinungs- und Religionsfreiheit zu erleben. In der „Logik“ der derzeitigen Debatte müssten ja auch diese „Anreize“ beseitigt werden. Dass die AfD dieses beabsichtigt, ist offensichtlich. Aber wollen sich CDU, FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen tatsächlich auf einen solchen Irrweg begeben? Das ist so abwegig, dass man sich nur wundern kann, dass die derzeitige „Anreiz“-Rhetorik hundertfach in den Medien wiedergekäut wird. Es wird höchste Zeit, dass wir zu einer Tonlage zurückfinden, die dem Gegenstand, nämlich der Menschenwürde von Geflüchteten, entspricht und die das Wichtigste im Blick behält: die Integration der Geflüchteten und die Wahrung der Grundrechte aller.

Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.

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Kommentare

sehr gut gegeben, bei all dem Geschrei

und gejauel, zuviel ist zuviel, wir laufen über und dergleichen, mal die richtige Position dagegengesetzt. Wir haben noch platz für viele weitere Millionen von Migranten und Siedlern. natürlich müssen wir leicht zusammenrücken, und die Zweit , Dritt und Viertwohnung zur Verfügung stellen. Der BK selbst belegt ja nach wie vor eine Wohnung in HH Altona- nur nutzen kann er sie nicht- dann kann da auch eine Familie einziehen. Das ist natürlich nur ein Beispiel, aber dieses steht für die unzähligen Möglichkeiten, die wir noch haben. ""Voll" sind wir noch lange nicht, ich schätze mal, das 100 Mio Einwohner passen, dann wird es aber wohl tatsächlich schwerer mit dem weiteren Zuzug. Bis dahin aber gilt: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

In die Sozialstaaten Europas

wollen Bürger bestimmter anderer Staaten vor allem, weil andere Länder wie bspw. USA oder Kanada schwerer bis gar nicht erreichbar sind und wiederum andere Staaten jeglichen illegalen Grenzübertritt abwehren, wie bspw. Australien aber auch asiatische Staaten wie Japan.

Wer Geld für die 'Reise' und für Schleuser hat oder später durch Schwarzarbeit und/oder legale Arbeit und/oder hohe Sozialleistungen und/oder ... 'erwirtschaftet', bräuchte gar nicht in die Sozialstaaten Europas.

Doch in den Sozialstaaten Europas und vor allem in Deutschland wurden bereits sehr grosse Gemeinschaften eigener Landsleute gebildet.

Dass diese Völkerwanderungen von einigen Vertretern schwarzafrikanischer oder vorderasiatischer Staaten in UN-Gremien schon seit Jahren gefordert werden, will man hier nicht wahrhaben, obwohl man es nachlesen könnte.

Wer über tausende Kilometer hinweg durch viele anderen Staaten hindurch nach Deutschland kommt, der war und ist nicht auf der Flucht.

Bürger der Ukraine, die vor Kriegshandlungen flüchteten/flüchten, waren und sind übrigens bereits im Norden oder Westen des eigenen Landes, spätestens aber in Polen, der Slowakei, Ungarn oder Rumänien in Sicherheit.

Sue verlieren sich im Klein-Klein

darum geht es gar nicht, und das wissen auch alle, selbst die, die sprachlich ins Unscharfe greifen- Asylmigration- Zuwanderung_ Fachkräftegewinnung usw. So genau wollen wir es gar nicht wissen. Wer kommt, ist willkommen, mag auch unklar sein, ob seine Identität und Angabe zur Staatsangehörigkeit zutrifft und nachvollziehbar ist. Jeder mensch ist einzigartig und darf hier ggf unter neuem Namen neu anfangen, denn:
Letztendlich geht es nur darum, dass hierzulande erwartete demographisch begründete Vakuum mit Menschen zu füllen, seien diese nun Flüchtlinge, Migranten, Siedler oder was auch immer noch von fall zu Fall die vermutlich zutreffendste Kategorie sein mag. Wesentlich kommt es darauf nicht an, sondern darauf, dass wir sie alle mit offenen Armen empfangen. Wenn wir gut zu Ihnen sind, dann zahlen sie es mit gleicher Münze zurück, und übernehmen unsere Pflege und die Arbeit, die gemacht werden muss, zu denen sich aber hierzulande niemand mehr herablässt

sorry

Sie