15. Oktober

Wahl in Polen: So stehen die Chancen für einen Regierungswechsel

Karolina Golimowska11. Oktober 2023
Beim „Marsch von einer Million Herzen“, zu dem die Opposition um Donald Tusk am 1. Oktober in Warschau aufgerufen hat, gingen bis zu eine Million Polinnen und Polen auf die Straße
Beim „Marsch von einer Million Herzen“, zu dem die Opposition um Donald Tusk am 1. Oktober in Warschau aufgerufen hat, gingen bis zu eine Million Polinnen und Polen auf die Straße
Aktuelle Umfragen deuten bei der Parlamentswahl in Polen am Sonntag auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden stärksten Kräfte hin: der rechtskonservativen PiS-Regierung und der Bürgerkoalition von Donald Tusk. Die Wahl wird vielen erschwert.

In wenigen Tagen, am 15. Oktober, wird in Polen das neue Parlament gewählt. Der Wahlkampf ist turbulent und fast jeden Tag kommen neue Themen auf den Tisch. Aktuelle Umfragen deuten auf einen Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden stärksten Kräfte: der bisher regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der Bürgerkoalition – einem Bündnis der Bürgerplattform von Donald Tusk mit der Partei Nowoczesna (Die Moderne), der Polnischen Initiative (iPL) und den Grünen.

„Marsch von einer Million Herzen“

Dies bereitet dem Regierungslager offensichtlich Sorgen, was sich nicht zuletzt durch einige auf die Schnelle ergriffenen Maßnahmen äußert und auch die Nutzung der öffentlichen Medien für die eigene Wahlkampagne beinhaltet. So hat man im staatlichen Fernsehsender TVP beispielsweise versucht, die Anzahl der Teilnehmer*innen am „Marsch von einer Million Herzen“, zu dem die Opposition um Donald Tusk am 1. Oktober in Warschau aufgerufen hat, stark herabzudrücken. Während der Pressesprecher des Warschauer Rathauses von ca. einer Million Menschen sprach, berichtete der Sender von 100.000 Teilnehmer*innen und stützte sich dabei auf die Angaben der Warschauer Polizei.

Es gibt aber noch weitere wichtige Spieler in dieser Wahl: auf dem rechten Ende des Spektrums die euroskeptische, teilweise nationalistische und systemfeindliche Partei Konfederacja (Konföderation), mittig die Partei Der Dritte Weg von dem Journalisten Szymon Hołownia und dann Die Linke. In den Medien wird viel über mögliche Regierungskoalitionen debattiert. Sollte die PiS gewinnen, mit wem wird sie zusammenregieren? Alle erwähnten Kräfte lehnen derzeit eine mögliche Koalition mit der PiS ab, auch die Konföderation, die die PiS in vielen Bereichen, u.a. der sozialen Transfers und der Ukraine-Politik öffentlich kritisiert.

Briefwahl abgeschafft

Was das Wählen an sich angeht, so wird es den Polinnen und Polen diesmal nicht leicht gemacht. Die Briefwahlmöglichkeit wurde abgeschafft. Ob die Stimmen aus dem Ausland überhaupt mitgezählt werden, bleibt nach wie vor unklar. Dazu kommt die Tatsache, dass die Wahlkreisgrößen und die Anzahl der Mandate in den jeweiligen Wahlkreisen nicht gemäß der tatsächlichen Bevölkerungszahlen angepasst wurden. So „wiegt“ eine in kleineren Städten und auf dem Land abgegebene Stimme mehr als in Warschau und anderen großen Städten, die in den letzten Jahren einen hohen Zuwachs an Anwohner*innen verzeichnet hatten und in denen die Befürwortung für die PiS traditionell geringer ist als anderswo.

Nach Daten der Gazeta Wyborcza, braucht es in Warschau durchschnittlich 69.000 Stimmen für ein Mandat und in einem benachbarten Wahlkreis nur 37.000 Stimmen. Es wird vom „Wahltourismus“ berichtet, also von Menschen, die außerhalb ihres festen Wohnsitzes wählen wollen um ihren Stimmen mehr Gewicht zu geben (die Anzahl der Anträge, die hierfür gestellt werden wächst täglich).

Boykott des Referendums

Und dann kommt noch die Frage des Referendums dazu, das gleichzeitig mit den Parlamentswahlen stattfinden soll und in dem den Bürger*innen vier Fragen gestellt werden. Diese sind so formuliert, dass man das Gefühl hat, der wahre Sinn des Referendums sei eine Provokation der Opposition. Die erste Frage lautet: „Unterstützen Sie den Verkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, der dazu führt, dass die Polen die Kontrolle über strategische Wirtschaftsbereiche verlieren?“ 

Die zweite betrifft die Anhebung des Rentenantrittsalters, die dritte die Grenze zu Belarus. Schließlich klingt die letzte Frage: „Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem von der europäischen Bürokratie erzwungenen Umsiedlungsmechanismus?“ Die Bürgerkoalition und die Linke rufen zum Boykott des Referendums auf, d.h. zur Verweigerung des Frage-Zettels in den Wahllokalen.

Die Themen, zu denen die Bürger*innen im Referendum befragt werden, sorgten auch sonst in den letzten Wochen für Aufregung. So hat man die so genannte Visa-Affäre aufgedeckt: polnischen Konsulaten wurde Korruption bei der Vergabe von polnischen Arbeitsvisen für die EU nachgewiesen, unklar bleibt noch die Größenordnung.

Knappe Entscheidung erwartet

Das Thema der vom polnischen Grenzschutz ausgeübten Pushbacks auf der polnisch-belarussischen Grenze wurde im neusten Film der Regisseurin Agnieszka Holland „Zielona Granica“ („Green Border“) thematisiert. Er zeigt die hoffnungslose Situation vieler Migrant*innen aus Syrien, Afghanistan, Marokko und anderen Ländern, die über Belarus versuchen nach Polen und in weitere EU-Länder zu gelangen um dort Asylanträge zu stellen. Der Film gewann den Preis der Jury auf dem Filmfestival in Venedig Anfang September, im Lande wurde die Arbeit der Regisseurin vom Justizminister Zbigniew Ziobro aber mit Goebbels‘ Propaganda verglichen. Seitdem wird der Film in der öffentlichen Debatte politisch ausgespielt, was ein gewisses Paradigmenwechsel darstellt, denn bis jetzt hat Kultur, Kulturfinanzierung und -Politik in dem Wahlkampf eine eher marginale Rolle gespielt.

Ob die beiden erwähnten Ereignisse der PiS bei den Wahlen schaden oder ihr Standing unter der Stammwählerschaft eher stärken werden, bleibt unklar. Es erwarten uns spannende Tage, denn höchstwahrscheinlich wird sich das Schicksal dieser Wahl bis zur letzten Minute entscheiden.

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