Vor der Wahl am 15. Oktober

Was hinter dem neuen Ukraine-Kurs der polnischen Regierung steckt

Max Brändle30. September 2023
Haben sich entfremdet: der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky (l.) und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (im April im Warschau)
Haben sich entfremdet: der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky (l.) und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (im April im Warschau)
Lange war Polen einer der größten Unterstützer der Ukraine. Nun verändert sich der Ton der polnischen Regierung gegenüber Kiew. Das hat vor allem innenpolitische Gründe.

Streit zur Unzeit zwischen Polen und der Ukraine? Zerknirscht reagierte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zuletzt auf die ukrainische Unterstützung für einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat. Und den Hinweis des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei dessen Rede vor den Vereinten Nationen, manche Staaten täuschten die Solidarität mit der Ukraine offenbar nur vor, während sie indirekt Russland unterstützten, verstand Morawiecki darüber hinaus als Beleidigung Polens.

Die rüde Antwort sorgte international und in Polen für einen Aufschrei: Keine neuen Waffen aus Polen für die Ukraine, stattdessen solle die eigene Verteidigungsfähigkeit an erster Stelle stehen. Doch Polen kündigt damit der Ukraine nicht die Unterstützung auf, verständlich werden diese Misstöne nur mit Blick auf die angeschlagene Stellung der Regierungspartei PiS auf den letzten Metern im polnischen Wahlkampf.

In Polen steht Vieles auf dem Spiel

Der trat vor den Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 nun in die heiße Phase ein. Nach zwei Legislaturperioden, in denen die nationalkonservative „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński regierte, steht Vieles auf dem Spiel. Die PiS hat Polen durch eine Aushöhlung der Gewaltenteilung, durch Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit aufgrund von Eingriffen in das Justizsystem, durch Verschärfung des Abtreibungsrechts und eine nationalistische Geschichtspolitik auf einen illiberalen, EU-skeptischen Kurs geführt.

Aufgrund der eingetrübten wirtschaftlichen Lage (hohe Inflation, schwaches Wachstum) kann die PiS mit ihrer bisher erfolgreichen sozialen Umverteilungspolitik jedoch nicht mehr punkten. Der PiS droht die Macht zu entgleiten und entsprechend nervös und aggressiv tritt sie im Wahlkampf auf. Größte Oppositionspartei ist die „Bürgerplattform“ von Donald Tusk (EVP-Parteienfamilie, in Umfragen 29 Prozent), die im Bündnis mit den Sozialdemokraten Nowa Lewica (zehn Prozent) und dem pragmatischen Wahlbündnis „Dritter Weg“ (zehn Prozent) eine Koalition gegen die PiS bilden möchte. In Umfragen steht die PiS bei 38 Prozent, das Oppositionsbündnis bei zusammen 49.

Schlüsselrolle für die Rechtspopulisten

In dieser Konstellation kommt der rechtspopulistischen und neoliberalen Kraft Konfederacjaeine Schlüsselrolle zu. Sie ist die einzige Partei, die sich skeptisch gegenüber der Unterstützung der Ukraine zeigt. Ohne die Stimmen der Konfederacja, ihre Unterstützung oder Tolerierung ist eine erneute Regierungsmehrheit für die PiS nicht denkbar. Als rechtspopulistische Kraft dient sich die Konfederacja jedoch nicht als Koalitionspartner an, sondern bezieht vielmehr Extrempositionen. Damit hatte sie zeitweise 15 Prozent in den Umfragen erreicht, wird mit gegenwärtig zehn Prozent zwar schwächer, aber immer noch entscheidend für die Mehrheitsbildung sein. Das gibt dem Wahlkampf nun eine neue Wendung. 

Die Bedrohung durch den Krieg im Nachbarland Ukraine wird in Polen existenzieller wahrgenommen als in Deutschland, schließlich grenzt auch Russland bei Kaliningrad an Polen. Sollte die Ukraine Russland nicht besiegen, so die Einschätzung, wäre Polen direkt von Russland bedroht. Entsprechend groß war von der ersten Stunde an die militärische, politische und humanitäre Unterstützung der polnischen Regierung und der polnischen Bevölkerung, insbesondere gegenüber den knapp eine Million ukrainischen Geflüchteten, die in Polen leben. Die unverbrüchliche Solidarität mit der Ukraine war in der sonst polarisierten Auseinandersetzung der Parteien stets als überparteilicher Konsens sakrosankt geblieben.

Die polnische Regierung rühmte sich, als wichtigster Unterstützer der Ukraine in der EU andere vor sich herzutreiben. Ohne polnischen Druck, so meinte beispielsweise Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Januar 2023, hätte sich Deutschland hinsichtlich der Lieferung von Kampfpanzern gar nicht bewegt. Und in der Tat ist Polen der wichtigste Hub zur Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Munition und hat eine neue Zentralität in der veränderten geopolitischen Lage gewonnen. Die zwei Besuche von US-PräsidentJoe Biden in Warschau in diesem Jahr belegen, wie hoch auch die USA die Rolle Polens einschätzen. Da das Ukraine-Thema aber zur Polarisierung nicht taugte, spielte es bislang im Wahlkampf keine Rolle.

Selenskyjs Polen-Kritik vor den Vereinten Nationen

Umso verwunderlicher ist es da, dass nun ausgerechnet aus Polen derartige Misstöne zur Unterstützung der Ukraine zu vernehmen sind: Über die vereinbarten Waffenlieferungen hinaus, so Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am 21. September, werde Polen keine weiteren Waffen an die Ukraine liefern, sondern wolle sich vielmehr um seine eigene Verteidigungsfähigkeit kümmern. Nicht nur in der EU und international war die Empörung groß, auch in Polen schlägt die Opposition und die liberale Presse Alarm. Denn der Konsens zur Unterstützung der Ukraine ist in der Gesellschaft keinesfalls aufgekündigt.

Vorausgegangen war jene kritische Äußerung Selenskyjs vor den Vereinten Nationen, auf ganz großer Bühne also, manche Staaten täuschten die Solidarität mit der Ukraine nur vor, während sie indirekt Russland unterstützen. Ohne Polen explizit zu nennen, kritisierte er damit die polnische Blockadehaltung, auch nach der Aufhebung durch die EU weiterhin kein ukrainisches Getreide nach Polen zu importieren. Die polnische Regierung möchte damit die eigenen Landwirte vor dem preiswerteren ukrainischen Getreideangebot schützen.

Publikumswirksame Konflikte mit Deutschland

Weder liegt es im strategischen Interesse Polens, die Unterstützung der Ukraine zu unterminieren, noch findet diese Haltung eine Mehrheit in der Bevölkerung. Es ist vielmehr ein anderes Muster zu erkennen: Aus Nervosität vor dem Verlust der Macht bei den bevorstehenden Parlamentswahlen ist der Regierungspartei PiS jedes Mittel recht, um zusätzliche Wählermilieus zu erschließen. Offenbar sieht sie im nationalistischen Lager der rechtspopulistischen Konfederacja hier ihre Chancen. Mutwillig und verantwortungslos werden internationale Ansehensverluste und diplomatische Verstimmungen in Kauf genommen, um sich in den Augen der heimischen Wahlbevölkerung als vermeintlicher Beschützer polnischer nationaler Interessen zu präsentieren.

Diesem Strickmuster folgend haben in den vergangenen Jahren auch die deutsch-polnischen Beziehungen Schaden genommen, beispielsweise durch die Forderung nach Reparationszahlungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro für die Schäden im Zweiten Weltkrieg. Teils durchaus publikumswirksam wird bei jeder Gelegenheit die Auseinandersetzung mit Deutschland gesucht, selbst wenn es um die Stationierung von Flugabwehrraketen auf polnischem Boden oder die Einrichtung von Werkstätten für in der Ukraine eingesetzte Kampfpanzer geht.

Die Opposition wird profitieren

Die Politik der PiS-geführten Regierung wird dabei immer inkohärenter. Das zeigt auch die Affäre um vermutlich 250.000 Visa, auch solche zur Einreise in den Schengen-Raum, die aufgrund von Schmiergeldzahlungen durch Dienstleistungsfirmen von polnischen diplomatischen Vertretungen vergeben wurden. Während auch hochrangige PiS-Vertreter in diesen Skandal verwickelt sind, erscheint es geradezu scheinheilig, dass die PiS am Wahlsonntag, dem 15. Oktober, in einem Referendum auch über die Frage abstimmen lässt, ob man der „Aufnahme tausender illegaler Migranten aus dem mittleren Osten und Afrika“, die Polen von der EU-Bürokratie auferlegt werde, zustimme. 

Die polnische Opposition, und darunter auch die Sozialdemokraten der Nowa Lewica, wird von diesen von der PiS fabrizierten Misstönen, Fehltritten und internationalen Spannungen profitieren können. Im polnischen Wahlkampf geht es vor allem um Mobilisierung, eigene Themen oder Visionen haben die Gegner der PiS kaum aufgeboten. Ihr stärkstes Argument lautet: Die PiS muss weg, und es dürfte an Gewicht gewonnen haben. Für den 1. Oktober 2023 ist eine Großdemonstration in der Hauptstadt Warschau angekündigt, der die Unterstützer*innen der Opposition zusammenführen und mobilisieren soll. Dennoch gehen Beobachter*innen davon aus, dass die PiS wieder stärkste Kraft werden, aber keine eigene Mehrheit haben wird.

Die Opposition kann die Regierung nur für sich beanspruchen, wenn sie eine klare Mehrheit von zehn bis 20 Sitzen (von insgesamt 460 Mandaten) hat; das ist aber unwahrscheinlich. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass sich bis zur Konstituierung des Parlaments 30 Tage nach der Wahl noch Einiges verschieben könnte: So ist es denkbar, dass es bei der Bildung der Fraktionen zu Übertritten kommt, insbesondere von der Konfederacja zur PiS. Nach der heißen Phase des Wahlkampfs, nach dem 15. Oktober wird dann in Polen die nicht minder hitzige Periode der Suche nach einer Mehrheit im neuen Parlament beginnen.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

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