SPD-Vize Serpil Midyatli

Die Türkei vor der Wahl: „Das kann Erdoğan durchaus gefährlich werden“

Kai Doering05. April 2023
Serpil Midyatli mit CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu in Ankara: Alle Oppositionsparteien agieren sehr besonnen.
Serpil Midyatli mit CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu in Ankara: Alle Oppositionsparteien agieren sehr besonnen.
Ende März war Serpil Midyalti zu politischen Gesprächen in der Türkei. Im Interview berichtet die stellvertretende SPD-Vorsitzende von ihren Eindrücken aus dem Erdbebengebiet und sagt, warum es im Mai zu einem Regierungswechsel kommen könnte.

Ende März sind Sie drei Tage mit Lars Klingbeil und einer kleinen SPD-Delegation in die Türkei gereist. Was nehmen Sie von dieser Reise mit?

Die gesamte Reise stand unter dem Eindruck des schrecklichen Erdbebens im Südosten der Türkei Anfang Februar – auch wenn wir die Reise schon vorher geplant hatten. In allen Gesprächen ist die große Unzufriedenheit mit der Erdogan-Regierung deutlich geworden. Die Menschen haben das Gefühl, mit der Katastrophe allein gelassen zu werden. Das verstärkt die ohnehin bestehende Wechselstimmung im Land vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai.

Wie ist die Situation im Land, abgesehen von der Erdbeben-Katastrophe?

Die Situation ist für viele sehr schwierig. In Istanbul haben wir uns mit verschiedenen Vertretern der Zivilgesellschaft getroffen. Eine Gewerkschaftsvertreterin hat uns berichtet, dass Beschäftigen, die sich organisieren wollen, gekündigt wird und sie in ihrem Streikrecht eingeschränkt werden. Besonders schlecht sind Geflüchtete aus Syrien gestellt, von denen es ja sehr viele in der Türkei gibt. Auch Frauen werden stark eingeschränkt. Eine der Hauptforderungen an eine mögliche neue Regierung ist deshalb, dass die Türkei sich künftig wieder an die Istanbul-Konvention hält.

Und wie haben Sie die Lage im Erdbeben-Gebiet erlebt?

Die Lage ist nach wie vor nicht einfach. Wir haben ja nur einen sehr kleinen Teil dieses riesigen Gebiets besuchen können in der Nähe von Gaziantep. Beeindruckend fand ich, dass sich die Menschen trotz der schwierigen Umstände nicht unterkriegen lassen. Der Vorsitzende unserer Schwesterpartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, hat sehr schnell Patenschaften von Abgeordneten und andere CHP-Politikern organisiert, die als Ansprechpartner und für ganz konkrete Hilfe zur Verfügung stehen. Die Partei übernimmt damit aus der Opposition heraus sehr viel Verantwortung. Für die Region, in der wir unterwegs waren, ist die Abgeordnete Aylin Nazliaka verantwortlich. Sie ist auch die Vorsitzende der weiblichen CHP-Mitglieder, also sozusagen der ASF in der Türkei.

Sie sprechen von Nurdağı, einer stark vom Erdbeben betroffenen Kreisstadt in der Provinz Gaziantep. Wie ist die Situation, zwei Monate nach dem Beben?

Das lässt sich kaum beschreiben. Ein eingestürztes Haus haben vermutlich viele schon einmal gesehen, aber dort steht wirklich gar nichts mehr. Nurdağı hat etwa 40.000 Einwohner, die nun alle obdachlos sind und in Zelten wohnen müssen. Wer mit dem Leben davongekommen ist, hat sein Haus und seine Arbeitsstelle verloren. Die Trinkwasserversorgung ist nicht kontinuierlich gesichert. Auch Internet gibt es nur sporadisch, was wichtig wäre, um Kontakt zu halten und auch die Beschulung der Kinder zu ermöglichen. Und Städte wie Nurdağı gibt es hunderte. Die Bilder werde ich so schnell nicht vergessen. Umso bemerkenswerter fand ich, dass die erste Reaktion auf unseren Besuch Dankbarkeit war. Die Menschen in der Türkei wissen um Deutschlands Hilfe und Unterstützung von Tag eins an.

Gibt es etwas, wo Deutschland noch mehr tun könnte?

Akut erstmal nicht. Bei der weiteren Hilfe geht es eher um den Wiederaufbau. Durch das Erdbeben fehlen in der Türkei auch viele Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die aber für den Wiederaufbau extrem wichtig sind. Mit Ekrem İmamoğlu, dem Bürgermeister Istanbuls, der sich für die CHP um die Region Hatay kümmert, haben wir deshalb verabredet, dass wir versuchen, nach der Parlamentswahl eine Abordnung von Stadtplanern in die Türkei zu schicken, die bei der Organisation des Wiederaufbaus helfen. Ein weiteres konkretes Hilfsvorhaben betrifft die SPD: Wir waren auch in einem Roma-Dorf, in dem noch ein Zelt für die Kinder fehlt. Das würde 3.000 Euro kosten, die wir gern innerhalb der SPD sammeln wollen. Solch ein Zelt würde auch helfen, dass die Kinder endlich wieder zur Schule gehen können. Das wünschen sie sich auch selbst sehr, damit endlich wieder ein Stück Normalität einkehrt.

Sie haben bereits von einer politischen Wechselstimmung gesprochen. Wie sehr werden das Erdbeben und der Umgang damit Einfluss auf die Wahlen im Mai haben?

Das ist schwer einzuschätzen. Die Wechselstimmung ist spürbar und der Ärger der Menschen auf das unzureichende Krisenmanagement der Regierung auch. Einig sind sich Opposition und Regierung in der Frage, dass die Wahlen zu wichtig sind, um sie zu verschieben. Die Opposition hat sich diesmal frühzeitig aufgestellt und tritt mit einem breiten Bündnis aus sechs Parteien an. So etwas hat es bisher in der Türkei noch nicht gegeben und ich denke, das kann Erdogan durchaus gefährlich werden. In den Umfragen liegt Kemal Kılıçdaroğlu zurzeit ja auch vor ihm.

Das Bündnis fasst sechs zum Teil sehr unterschiedliche Parteien zusammen. Wie stabil ist es?

Positiv finde ich, dass die Parteien bereits eine Art Vor-Koalitionsvertrag aufgesetzt haben mit Dingen, in denen sie sich bereits einig sind. Er umfasst 260 Seiten. Im Zentrum steht dabei, dass sie alle Rechtsstaatlichkeit wollen. Die Rolle des Parlaments soll gestärkt und alle politischen Gefangenen sollen entlassen werden. All das schon vor der Wahl hinzubekommen, stimmt mich sehr zuversichtlich. Bei der CHP drückt sich die positive Stimmung u.a. darin aus, dass es auf die 600 Plätze auf der Liste für die Parlamentswahl mehr als 3.000 Bewerberinnen und Bewerber gab. Die AKP von Erdogan hatte dagegen Mühe, ihre Plätze überhaupt zu besetzen.

Sie waren auch bei der kurdischen HDP zu Gast, die immer wieder unter der Repression der Regierung leiden musste. Wie wird dort auf die Wahl geblickt?

Alle Oppositionsparteien agieren sehr besonnen. Die HDP, die sicher unter besonderer Beobachtung der Regierung steht, hat sich kurz vor der Wahl einen neuen Namen gegeben, um nicht das Risiko einzugehen, nicht zur Wahl zugelassen zu werden. Sie heißt nur „Yesil Sol Partisi“ und verzichtet auch auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten, was de facto eine Unterstützung von Kemal Kılıçdaroğlu ist. Der Wunsch, einen Wechsel mit demokratischen Wahlen herbeizuführen, ist riesengroß.

Zum Schluss: Was nehmen Sie für das Verhältnis zwischen SPD und CHP von der Reise mit?

Das Verhältnis zwischen den beiden Schwesterparteien wollen wir unbedingt stärken. Lars Klingbeil hat betont, dass es ein Unding ist, dass der letzte Besuch eines SPD-Vorsitzenden bereits zehn Jahre zurückliegt. Er hat deshalb auch vorgeschlagen, dass es in regelmäßigen Abständen Zusammenkünfte und Konferenzen der beiden Parteien geben soll. Ich würde auch gern deutsche und türkische Sozialdemokratinnen stärker miteinander zu vernetzen. Und Kemal Kılıçdaroğlu hat die Jusos eingeladen, im Sommer zu einem Jugendcamp der CHP-Parteijugend an der Ägäis zu kommen. All das kann die Zusammenarbeit auf Jahre festigen.

Unterstützung für ein Kinderzelt

Wer die Anschaffung eines Kinderzelts (Kostenpunkt 3000 Euro) unterstützen möchte, kann hier spenden.

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