SPD-Chef

Besuch in der Türkei: Warum Lars Klingbeil ins Erdbebengebiet reiste

Kristina Karasu24. März 2023
Hoffnung auf Normalität nach dem Beben: Lars Klingbeil, Serpil Midyatli und Nils Schmid im Gespräch mit Kindern in Nurdağı
Hoffnung auf Normalität nach dem Beben: Lars Klingbeil, Serpil Midyatli und Nils Schmid im Gespräch mit Kindern in Nurdağı
SPD-Chef Lars Klingbeil hat mit einer Delegation der Partei das Erdbebengebiet im Südosten der Türkei besucht. Er versprach langfristige Hilfen aus Deutschland – und betonte die Verbundenheit beider Länder

Je mehr sich der Reisebus der SPD-Delegation der Kreisstadt Nurdağı im Südosten der Türkei nähert, um so klarer zeigt sich das Ausmaß der Katastrophe: Ein Trümmerberg reiht sich an den nächsten, dazwischen ragen schiefe Häuser voller Risse hervor. Einem Haus fehlt die Fassade, ein einsamer Kleiderschrank in der oberen Etage erinnert an ein längst vergangenes Leben. Bagger reißen die Reste einer Moschee ab, wenige Menschen laufen verloren durch Schutt und Staub.

Klingbeil: „Deutschland hat mit der Türkei geweint.“

Lars Klingbeil schaut aus dem Fenster, versucht zu begreifen. Die Erdbeben vom 6. Februar und ihre Auswirkungen haben ihn seit dem ersten Tag beschäftigt: „Deutschland hat mit der Türkei zusammen geweint“, sagt er. Es gebe kaum jemanden in Deutschland, der nicht irgendwelche persönliche Beziehungen ins Erdbebengebiet hat, ob durch Verwandte, Nachbarn oder Kollegen. Das habe ihm vor Augen geführt, wie nahe Deutschland und die Türkei miteinander verbunden sind, so Klingbeil. Nun will er sich zusammen mit der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Serpil Midyatli und einer Delegation selbst ein Bild vor Ort machen, will Solidarität zeigen und erfahren, wie Deutschland langfristig Hilfe leisten kann.

Zwei verheerende Beben der Stärke 7,5 und 7,8 trafen am 6. Februar den Südosten der Türkei und Nordsyrien. Offiziell starben allein in der Türkei rund 50.000 Menschen, doch viele Experten vor Ort schätzen die tatsächlichen Zahlen auf weit höher. Mehr als 35.000 Gebäude stürzten ein. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) schätzt die Schäden durch das Erdbeben allein in der Türkei auf über 100 Milliarden Euro. Bei einer Geberkonferenz sagte die Europäische Kommission der Türkei und Syrien am Montag mehr als 1,1 Milliarden Euro für den Wiederaufbau zu, Deutschland beteiligt sich mit 240 Millionen Euro.

Besuch mit großer Symbolkraft

Der erste Stopp der Delegation in Nurdağı ist ein Containercamp, hier umringen plötzlich duzende Fotografen und TV-Teams den Bus. Klingbeil wird vom türkischen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der SPD-Schwesterpartei CHP begrüßt. Am 14. Mai werden in der Türkei ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt, Kılıçdaroğlu ist der kürzlich ernannte Kandidat des Sechser-Oppositionsbündnisses. Der Besuch Klingbeils hat da große Symbolkraft. Zwar betont er, in seiner Funktion als Parteivorsitzender zu kommen - doch die türkische Opposition scheint ihn hier vielmehr als Vertreter der Bundesregierung wahrzunehmen.

In einem großen Zelt setzt man sich gemeinsam an einen Tisch, neben Kılıçdaroğlu sitzen die Bürgermeister von Istanbul und Antalya. Erdogans Krisenmanagement nach dem Beben wurde in der Türkei stark kritisiert, Kılıçdaroğlu und sein Team wollen beweisen, dass sie es besser können. So hält seine Partei seit dem Beben ihre Fraktionssitzungen im Erdbebengebiet ab, zeigt Präsenz. CHP-Bürgermeister*innen aus anderen Landesteilen koordinieren die Hilfe in bestimmten Provinzen des Erdbebengebietes, dieses Containercamp etwa wird von der Stadtverwaltung Antalya betrieben.

Die Bergungsarbeiten sind längst abgeschlossen, nun geht es darum, dauerhafte Unterkünfte für die Millionen obdachlos gewordenen Menschen zu finden, erklärt der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu. Noch immer fehlt es vielerorts an stabilen Zelten oder Containern. Langfristig erhofft man sich Unterstützung deutscher Städteplaner „um die Städte sicherer und nachhaltiger wieder aufzubauen“, so Imamoglu. Insbesondere in der multikulturellen Provinz Hatay sind bedeutende historische Stätten zerstört – darunter Kirchen, Klöster, Moscheen und Synagogen, erklärt Kılıçdaroğlu. Auch für deren Wiederaufbau könne man Unterstützung von deutschen Experten dringend benötigen, appelliert der CHP-Führer. Klingbeil nickt, er verspricht eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, will diese Themen an die Bundesregierung herantragen.

Von Alltag kann längst keine Rede sein

Nachdem Kılıçdaroğlu und sein Team abgebraust sind, macht sich Klingbeil selbst ein Bild von den Zuständen im Camp. Die Menschen wohnen in Containern, es gibt saubere Toiletten, Duschen und regelmäßige Malzeiten. Überall umringen ihn Kinder. Ihre Häuser liegen in Trümmern, sie alle haben Verwandte bei dem Beben verloren. Hinter ihnen liegen Wochen voller Trauer, Kälte und Verzweiflung. Drei Elfjährige klagen, dass sie seit dem Beben keinen Schulunterricht haben. Ihr Schulgebäude ist eingestürzt, die meisten Lehrer haben aus Angst die Region verlassen. Nun soll es Onlineunterricht geben, aber die Schülerinnen haben weder Tabletts noch Internetverbindung. „Wenn wir Unterricht hätten, dann würden die Tage zumindest vergehen“; sagt die elfjährige Perihan. Das Leben geht weiter, doch von Alltag kann noch längst keine Rede sein.

Weiter im Zentrum von Nurdağı haben die Menschen nicht einmal Container, wohnen in Zelten zwischen den Trümmern. Die Erdoğan-Regierung hat in Aussicht gestellt, die Region in einem Jahr wieder aufzubauen, doch hier glaubt man kaum daran. „In einem Jahr kann man allenfalls die Trümmerberge abtragen“, meint Mustafa Bahar, einer der Zeltbewohner. Trotz allen Widrigkeiten will er im Mai wählen gehen, auch wenn er zur Urne einen weiten Weg zurücklegen müsste. „Das lassen wir uns nicht nehmen, egal für wen wir stimmen“, sagt er.

Zufallsbegegnung am Flughafen

Bei Einbruch der Dunkelheit macht sich die Delegation zurück auf den Weg zum Flughafen. „Es wird noch eine Weile dauern, bis ich diese Eindrücke verarbeitet habe“, sagt Klingbeil nachdenklich. Am Flughafen Gaziantep warten vier Männer aus seinem Wahlkreis auf ihn, alte Bekannte. Sie sind Mitglieder eines kurdischen Fußballklubs aus dem Heidekreis. In Deutschland hatten sie mehr als 36.000 Euro Spenden für Erdbebenopfer gesammelt, auch Klingbeil hat gespendet.

Damit haben sie Zelte, Supermarktgutscheine, mobile Toiletten und Spielzeug gekauft. In den vergangenen zwölf Tagen sind sie über 4000 Kilometer durch die Erdbebenregion gefahren, um diese selbst zu verteilen. Auf den türkischen Staat wollten sie sich nicht verlassen. „Überall im Katastrophengebiet sagte uns Menschen: wir wurden im Stich gelassen“, sagt Yilmaz Metin Barış. Klingbeil hört ihnen aufmerksam zu. Er hält sich mit politischen Statements zurück. Doch er spürt: Diese Katastrophe wird noch lange nachbeben.

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