Besuch von Lars Klingbeil

Vor den Wahlen: Warum die Türkei auf einen Wandel hoffen darf

Kristina Karasu24. März 2023
Besuch unter Freunden: SPD-Chef Lars Klingbeil beim Vorsitzenden der türkischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu.
Besuch unter Freunden: SPD-Chef Lars Klingbeil beim Vorsitzenden der türkischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu.
Die türkische Opposition will mit einem breiten Bündnis Erdoğan schlagen. SPD-Chef Lars Klingbeil stärkte jetzt bei einem Türkei-Besuch die Bande zu den Schwesterparteien CHP und HDP – und wurde Zeuge eines kritischen Wahlkampfes.

In der riesigen Parteizentrale der republikanischen Volkspartei CHP in Ankara herrscht am Mittwoch hektisches Treiben. Tausende Parteimitglieder strömen durch das Gebäude, wollen sich als Kandidat*innen registrieren lassen. Am 14. Mai wählt die Türkei einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament, viele im Land bezeichnen es als eine Schicksalswahl, als eine Wahl zwischen Autokratie und Demokratie. Die sozialdemokratische CHP, Schwesterpartei der SPD, hat sich mit fünf anderen Parteien zu einem Bündnis zusammengeschlossen, wurde Anfang März zum gemeinsamen Präsidentschaftsandidaten ernannt. Seither liegt er in fast allen Umfragen deutlich vor Erdoğan. Aber jede*r in der Türkei weiß, dass in den Wochen bis zur Wahl noch viel passieren kann. So ist die Stimmung in der CHP-Zentrale leicht hoffnungsvoll, aber aufgekratzt.

SPD und CHP wollen enger zusammenarbeiten

Nur Kandidat Kılıçdaroğlu scheint in sich zu ruhen, für seine stoische Ruhe ist der 74-jährige bekannt. Lächelnd begrüßt er seine Gäste: Der SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil ist mit einer Delegation seiner Partei in die türkische Hauptstadt gereist, um die Bande zur Schwesterpartei zu stärken. 2013 war mit Sigmar Gabriel der letzte SPD-Parteivorsitzende hier zu Besuch, „viel zu lang ist das her“, findet Klingbeil. Am Tag zuvor hatten man sich bereits im Erdbebengebiet getroffen und auf Katastrophenhilfen verständigt, heute sollen politische Themen auf der Agenda stehen. Klingbeil gratuliert Kılıçdaroğlu zur Nominierung und dazu, ein breites Oppositionsbündnis auf die Beine gestellt zu haben.

Die SPD verhehlt nicht, dass sie einen Sieg ihrer Schwesterpartei begrüßen würde, aber Klingbeil hütet sich vor politischer Einflussnahme. Die CHP wiederum fühlt sich den dem Besuch unverkennbar geehrt. In Zukunft wollen sie viel enger zusammenarbeiten, das betonen beide Seiten. Möglicherweise sitzt Klingbeil der nächste Präsident der Türkei gegenüber – das macht den Besuch umso bedeutender.

Am selben Morgen sickert durch, dass die kurdennahe HDP keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellen wird. Sie ist kein Mitglied des Sechser-Bündnisses, will aber direkt oder indirekt Kılıçdaroğlu unterstützen. Für die Wahl könnte das entscheidend sein, schließlich kommt die HDP regelmäßig auf zehn Prozent der Stimmen. Doch nicht jedem im Land gefällt dieser Zug. Vor den Toren der CHP protestiert plötzlich eine kleine, wütende Gruppe aus Veteranen und Angehörigen von Terroropfern. Sie wirft Kılıçdaroğlu vor, mit Terroristen zu kollaborieren. Die Stimmung ist aufgeheizt.

Der Wunsch, Erdoğan loszuwerden, verbindet

Tatsächlich versucht Kılıçdaroğlu derzeit einen Drahtseilakt: in seinem Secher-Bündnis sind Nationalisten ebenso wie Ultrareligiöse vertreten, ehemalige AKP-Gründer ebenso wie Linke. Zwar sind sich alle einig, Erdoğan abwählen zu wollen. In ihrem 260-Seiten langen Programm haben sie festgehalten, dass sie eine Rückkehr zum parlamentarischen System anstreben ebenso wie eine Stärkung von Rechtsstaat und Meinungsfreiheit. Doch bei Themen wie Kurdenfrage oder Frauenrechten gehen die Meinungen im Bündnis weit auseinander, das Papier bleibt in diesen Punkten vage. Frauenrechtler*innen, Gewerkschafter*innen oder Menschenrechtler*innen im Land geht das Programm des Bündnisses nicht weit genug – aber sie sehen ihn zumindest als einen ersten Schritt in Richtung mehr Demokratie.

Vage bleibt auch, welche außenpolitischen Ziele das Bündnis verfolgen will. Zwar bekennt es sich deutlich zur EU, will international einen friedlicheren, diplomatischeren Kurs fahren. Gleichzeitig erklärte Kılıçdaroğlu wiederholt, die vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land zurück in die Heimat schicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU aufkündigen zu wollen. In der EU schrillten da die Alarmglocken – während das in der türkischen Bevölkerung auf großen Widerhall stieß. Viele Türk*innen fühlen sich von der EU bei der Versorgung der Flüchtlinge im Stich gelassen – und haben angesichts von Wirtschaftskrise und Hyperinflation fühlen sich die Syrer*innen zum schwarzen Schaf ernannt. Eine gefährliche Entwicklung, an der die EU mit ihrer Politik der geschlossenen Grenzen nicht unschuldig ist.

Klingbeil erklärt seine Solidarität mit der HDP

Klingbeil spricht diese Themen hier bei Kılıçdaroğlu an, stößt auf offene Ohren. Ohnehin hat Kılıçdaroğlu in den letzten Wochen seine Rhetorik etwas abgemildert, mahnt nun dazu, den „syrischen Brüdern ohne Rassismus“ zu begegnen und sie in ein befriedetes Syrien zurückkehren lassen zu wollen. Möglicherweise will er damit nur seine europäischen Partner*innen beruhigen. Es bleibt viel Gesprächsbedarf.

Der letzte Besuch Klingbeils ist schließlich bei der kurdennahen HDP, ebenfalls Schwesterpartei der SPD. Ihre Parteizentrale ist klein und verlebt, kein Vergleich zum schicken Hochhausturm der CHP. Umso warmherziger ist der Empfang für die SPD-Delegation. HDP-Co-Chef Mithat Sancar und mehrere seiner Mitstreiter*innen sprechen fließend Deutsch, man kennt sich.

Kaum eine Partei war in der Türkei den letzten Jahren so großer Repressalien ausgesetzt wie die HDP. Weil die Regierung sie als den politischen Arm der PKK betrachtet, sitzen hunderte ihrer Politiker*innen seit Jahren in Haft, unter anderem ihr prominenter Ex-Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş. Dutzende ihrer Bürgermeister*innen im Südosten des Landes wurden abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, derzeit droht der Partei gar ein Parteiverbot und hunderten ihrer Politiker*innen ein jahrelanges Politikverbot. Klingbeil erklärt sich vor Ort klar solidarisch: „Ich habe hier fest zugesagt, dass wir von deutscher Seite beobachten werden was in der Türkei passiert und mit politischem Druck kommentieren werden. Es kann nicht sein, dass demokratische Verfahren und rechtstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt werden. Das können wir nicht akzeptieren“, so Klingbeil.

Am Abend erklärt die HDP, mit einer neuen Partei in die Wahl zu gehen, um das mögliche Parteiverbot zu entgehen. Sie nennen sich jetzt „Yeşil Sol Partisi“, (Grüne Linkspartei). Wie schon so oft hat sie einen Weg gefunden, dem Druck standzuhalten. Bei den Wahlen am 14. Mai könnte das entscheidend sein.

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