Zeitenwende

Mützenich: Russland hat unsere außenpolitischen Gewissheiten zerstört

Rolf Mützenich30. Juni 2022
Brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung der Ukraine: Nach russischen Raketenangriffen am 21. März 2022 sind dieses Einkaufszentrum und das Wohnhaus in Kiew vollkommen zerstört, die Aufnahme stammt vom Tag danach.
Brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung der Ukraine: Nach russischen Raketenangriffen am 21. März 2022 sind dieses Einkaufszentrum und das Wohnhaus in Kiew vollkommen zerstört, die Aufnahme stammt vom Tag danach.
Für Rolf Mützenich, den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, ist klar: Auf absehbare Zeit wird es Sicherheit in Europa nur vor und nicht länger mit Russland geben können. Der russische Angriffskrieg habe die europäische Friedensordnung zerstört.

Der 24. Februar 2022 war ein Zeitenbruch in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine ist der Krieg nach Europa zurückkehrt. Seither hat sich vieles geändert: Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner historischen Zeitenwende-Rede am 27. Februar einen beispiellosen Kurswechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eingeläutet. Die Bundesregierung liefert im Einklang mit der UN-Charta in großem Umfang Waffen zur Selbstverteidigung an die Ukraine und hat gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedstaaten nunmehr sechs Sanktionspakete gegen Russland verabschiedet.

Vor wenigen Wochen hat die SPD-Fraktion schließlich gemeinsam mit einer großen Mehrheit im Bundestag das Sondervermögen „Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands auf den Weg gebracht – und damit den ersten Teil der „Zeitenwende“ mit Leben gefüllt.

Mützenich: „neue globale Machtstrukturen entstehen“

Die „Zeitenwende“ bedeutet gleichwohl mehr. Putins Krieg hat viele vermeintliche Gewissheiten infrage gestellt. In den vergangenen Monaten haben sich die europäische Sicherheitsordnung und die Welt- und Wirtschaftsordnung grundlegend gewandelt. Wir erleben, wie neue globale Machtstrukturen entstehen, die die bewährte internationale, regelbasierte Ordnung zunehmend bedrohen. Der russische Angriffskrieg hat das Projekt einer kooperativen europäischen Friedensordnung zerstört. Gleichwohl dürfen wir nicht ausschließlich auf militärische Abschreckung setzen, sondern müssen uns wieder auf den mühsamen Weg machen, neue Kooperationsstrukturen in Europa und weltweit aufzubauen.

Auf all diese Herausforderungen muss die „Zeitenwende“ eine umfassende Antwort finden, die einerseits unsere Wehrhaftigkeit stärkt und zugleich im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs auf Vertrauensbildung, Entwicklungszusammenarbeit sowie die Einhaltung und Förderung des Völkerrechts setzt.

Stärke und Verhandlungen nötig

Damit steht die „Zeitenwende“ in einer langen und erfolgreichen Tradition sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik. Denn auch die Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs bestand im Wesentlichen aus einem doppelten Ansatz: aus militärischer Stärke und einer Politik der unermüdlichen, oft langwierigen und mühsamen Verhandlungen. Deshalb sind die Vorwürfe an die SPD, sie habe eine unkritische Nähe oder gar Appeasement-Politik gegenüber Russland betrieben, wohlfeil. Es war schließlich die Ostpolitik, die die deutsche und europäische Teilung maßgeblich mit zu überwinden half und damit die Grundlagen für die Unabhängigkeit und Demokratisierung vieler osteuropäischer Staaten schuf, die heute Mitglieder der EU und der NATO sind. Darauf können wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten weiterhin zu Recht stolz sein. Gleichwohl ist auch klar: Seit dem 24. Februar 2022 wird es Sicherheit auf absehbare Zeit nur vor und nicht länger mit Russland geben können.

Aus diesem Grund haben nach vielen Jahren der Neutralität auch die sozialdemokratisch-geführten Regierungen in Finnland und Schweden jüngst einen Beitrittsantrag bei der NATO eingereicht. Beide Länder stellen nicht nur eine militärische Verstärkung dar, sondern bringen im Bereich der kooperativen Sicherheit wichtige Erfahrungen mit. Durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Putin letztlich die noch von US-Präsident Trump als „obsolet“ und von Macron als „hirntot“ bezeichnete NATO wiederbelebt. Gleichzeitig erlebt auch die Europäische Union eine Renaissance. Seit Ausbruch des Krieges agieren die EU-Mitgliedstaaten so geeint wie seit langem nicht mehr. Auch unter den EU-Bürgerinnen und -Bürgern entsteht derzeit ein neues Bewusstsein für die Wichtigkeit einer EU-Mitgliedschaft.

Zeit ist reif für europäische Streitkräfte

Putins Invasion hat uns zudem die Notwendigkeit einer stärkeren Bündelung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten erneut drastisch vor Augen geführt. Deshalb ist es auch zentral, dass wir das Sondervermögen in gemeinsame europäische Anstrengungen und Initiativen integrieren. Nach dem Beginn des Koreakrieges 1950 schlug der damalige französische Ministerpräsident René Pleven die Etablierung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit einer europäischen Armee und einem europäischen Verteidigungsminister vor. Damals war die Zeit noch nicht reif, vielleicht ist sie es heute.

Für uns ist klar, wir brauchen eine demokratisch gefestigte, handlungsfähige und strategisch souveräne EU, damit wir uns künftig im Großmächtewettbewerb zwischen China, Russland und den USA behaupten können. Mit der „Zeitenwende“ müssen wir jetzt auch mehr Fortschritt für Europa wagen. Gleichzeitig machen die großen globalen Krisen und Herausforderungen (u. a. Klima, Pandemie, Ernährungssicherheit) deutlich, wie wichtig enge multilaterale und internationale Zusammenarbeit und Kooperation bleiben. Deshalb ist es richtig und weitsichtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz neben der Ukraine auch Indonesien, Indien, Senegal, Südafrika und Argentinien als Gastländer zum G7-Gipfel vom 26. bis 28. Juni in Elmau eingeladen hat.

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Kommentare

Gewiss waren und sind die eigenen Interessen

Diese Interessen galt und gilt es zu vertreten. Gegenwärtig geschieht genau das nicht.

Personen wie Klaus von Dohnanyi oder John Joseph Mearsheimer wiesen schon seit Jahren darauf hin, dass die Ukraine zum Stellvertreter der Interessen der USA aufgebaut wurde.

Es waren und sind genau diese US-Interessen, die zum Stellvertreterkrieg der Ukraine mit der Russischen Föderation führten.

Was macht Sie so unsagbar

Was macht Sie so unsagbar sicher, dass die Ukraine nicht unsere first line of defense gg. Putins/Russlands unersättlichen Landhunger ist? Den die russischen Führungen zur Legitimation ihrer diakonischen Innenpolitik brauchen, auch, wenn nicht vor allem nach 1990.

Sanktionen

Unabhängig davon wie Sanktionen wirken ist nach §39 der UN-Charta nur die UNO ermächtigt Sanktionen völkerrechtswirksam zu erlassen. Wenn das von einer Wertegemeinschaft, G7, EU, NATO oder irgenwelchen Guten ohne UN Zustimmung gemacht wird ist das schlichtweg völkerrechtswidrig. Genauso völkerrechtswidrig wie die russische Invasion in der Ukraine.

Nichts dergleichen steht im

Nichts dergleichen steht im 39. Der zudem untauglich wäre, da Russland Sanktionen gg sich selbst zustimmen müßte.

Artikel 39 UN-Charta

Damit auch mal klar ist, worüber hier gerade diskutiert wird, Paragraf 39 der UN-Charta: „Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.“

Von Ausschlusskriterien ist auch in 41/42 nicht die Rede, sondern lediglich von Empfehlungen und Optionen (Der Sicherheitsrat kann... beschließen) – was im Umkehrschluss bedeutet, dass auch ohne Empfehlungen und Beschlüsse Sanktionen vom Völkerrecht gedeckt sein können.
Macht wie bereits angemerkt auch in der aktuellen Situation logisch betrachtet keinen Sinn, wenn die Nationen gegen die Sanktionen verhängt werden, selbst im Sicherheitsrat sitzt.

G 7 und BRICS - von Elmau zurück zur Kooperation?

Zwar enthält der Artikel aus meiner Sicht einige Irrtümer. Der Krieg ist spätestens 1999 via NATO über Belgrad nach Europa zurückgekehrt. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr bestand gerade nicht in der Rückkehr zum Krieg als Mittel der Politik. Und der G-7 Gipfel endet mit einer Stärkung des BRICS-Verbundes.
Die Unterordnung der EU unter die geopolitischen Strategien der US-amerikanische Neokonservativen isoliert den Westen weiter und stürzt Europa in eine Wirtschaftskrise, deren Ausmaß nur mit den Zeiten vor den beiden Weltkriegen vergleichbar ist.
Aber der Kern von Rolfs Überlegungen ist: Wir müssen gerade die Unterordnung unter die USA beenden und uns wieder dem Rest der Welt in kooperativer Absicht zuwenden. Ja!!!
Ich erinnere mich, dass die kooperative Weltordnung seit Jahren von China, Russland und anderen Ländern thematisiert wurde, z.b. auf den Münchener Sicherheitskonferenzen. Ich habe gerade dort vom Westen nichts gehört - nur eisiges Schweigen.
Russland ist auch Europa. Ein Neuanfang setzte voraus, dass die jetzige Lage als Fehler beider Seiten erkannt wird. Das sollte für uns Sozialdemokraten eine leichte Übung sein.

„Sicherheit vor, nicht mit Russland“

Ich möchte nicht in Mützenichs Haut stecken: Er kann die martialische, neue Friedenspolitik Klingbeils nicht mittragen, kann sie aber auch nicht, da vermutlich mit Scholz abgestimmt, öffentlich verwerfen. Aber dazu schweigen, dass „auch militärische Gewalt als Mittel der Politik zu sehen“ sei, kann durch keine Rücksichtnahme gerechtfertigt werden. (Putin hat sich genau nach diesem Satz verhalten!) Ich jedenfalls möchte nicht in einer Partei sein, die eine solche völker- und menschenrechtswidrige „Friedenspolitik“ auch nur erwägt! Von einer solchen Partei möchte ich auch unser Land nicht regiert sehen!!

„Der russische Angriffskrieg hat das Projekt einer kooperativen europäischen Friedensordnung zerstört“. Immerhin hat es die gut dreißig Jahre lang gegeben: Sie hat uns, der Russischen Föderation, Europa, ja, der ganzen Welt in jeder Hinsicht sehr gutgetan – und das soll durch einen krankhaft Bösen, allein „weil er es kann“ (v. Lucke), vernichtet worden sein? So schlicht funktioniert Geschichte, Leben, Realität nicht.

„Sicherheit vor, nicht mit Russland“_2

Steinmeier hat sich für diese dreißig Jahre entschuldigt (!): „Wir sind... gescheitert, Russland ... einzubinden." Dieses Einbinden ging davon aus, dass sich 1989/90 „das westliche Modell als überlegen gezeigt, der Westen gewonnen hatte“ (Klingbeil), also die zerfallende UDSSR in das Projekt der Nato- und EU-Osterweiterung würde einwilligen müssen. Tatsächlich traten bis 2004 zehn ehemalige Warschauer Pakt–Staaten der Nato/EU bei. Die Russische Föderation hat diese Erweiterung immer missbilligt und, als sie auf Georgien und die Ukraine ausgedehnt werden sollte, mit Krieg geantwortet (- also mit einem Verbrechen). Es gibt weitere Gründe für den Krieg; diesen hätten wir beeinflussen können. Immerhin ist festzuhalten, dass unsere europäische Friedensordnung nicht die russische war. Trotzdem hat die Russische Föderation keinen Nato-/EU-Staat angegriffen und ihre wirtschaftlichen Verträge erst zu stoppen begonnen, seid wir sie zu „ruinieren“ versprochen und damit begonnen hatten.

„Sicherheit vor, nicht mit Russland“_3

Vier Monate später ist unsere Gesellschaft darauf abgewiesen, dass Putin nicht uns den Gashahn zudreht, von der globalen Hungersnot, die durch den Krieg und unsere Sanktionen dramatisch zunehmen wird, gar nicht zu reden. Und für den Kampf gegen den Klimawandel ist der Krieg eine globale Katastrophe!

Vielleicht erwarte ich zu viel von Außen- und Sicherheitspolitik, aber wir, die Guten, hätten das voraussehen und z. B. den Vorschlag der Russischen Föderation für eine europäische Friedensordnung vom Dezember wenigstens diskutieren müssen.

„... gleichwohl ... müssen (wir) wieder ... neue Kooperationsstrukturen in Europa ... aufbauen. Sind nicht (fast) alle europäischen Staaten - außer Belarus, Russland, Ukraine und Moldau – fest in den europäischen Kooperationsstrukturen EU/Nato verankert?

„Sicherheit vor, nicht mit Russland“_4

Welche neuen europäischen Strukturen Mützenich auch immer meint – ohne die Russische Föderation kann es (mangels Masse) keine geben. Und falls die Russische Föderation nicht Mützenichs Analyse, dass es „Sicherheit auf absehbare Zeit nur vor und nicht länger mit Russland geben“ kann, wenigstens stillschweigend teilt, wird es auch die nicht geben. (Wie unsere Wortgewaltigen kann auch Mützenich nicht erklären, wie Sicherheit „vor“ einer atomaren Weltmacht möglich sein kann, die, so unser Narrativ, uns ans Leder will.) Da hilft es auch nicht, ab jetzt 70 bis 80 Mrd. € jährlich in die Bundeswehr zu „investieren“ – diese Bagatelle erwähnt Mützenich nicht einmal. Immerhin betont er, „nicht ausschließlich auf militärische Abschreckung setzen“ zu wollen.

„... wir brauchen eine demokratisch gefestigte, handlungsfähige und strategisch souveräne EU...“ Eine zentrale Rolle nimmt dabei eine EU-Armee ein. Diesen Vorschlag Mützenichs sollten wir ernsthaft verfolgen, allein schon deshalb, weil eine „strategisch souveräne EU“ nicht automatisch an einem Konflikt zwischen den USA und China beteiligt wäre.

bekommt man eine Vergütung für Texte, wenn

dies, ggf summiert, eine gewisse Zeilenzahl erreicht bzw überschritten haben?
Die will ich dann auch haben, ich frage mich schon, warum ich mich hier immer so kurz fasse?