Nach Russlands Überfall

Zeitenwende: Wie die SPD ihren außenpolitischen Kurs neu bestimmt

Kai Doering20. März 2023
Treibt die Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik der SPD voran: Parteichef Lars Klingbeil
Treibt die Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik der SPD voran: Parteichef Lars Klingbeil
Die Kommission Internationale Politik hat Vorschläge für eine Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik der SPD vorgelegt. Diese sollen bis zum Parteitag im Dezember diskutiert und dort beschlossen werden.

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, löste das auch in der SPD ein Beben aus. Jahrzehntelang hatte man auf einen engen Austausch mit dem Nachbarn im Osten gesetzt. „Wandel durch Handel“ galt als eine Maxime in der Partei. Über allem schwebte die Ost- und Entspannungspolitik der 1960er und 70er Jahre. Das alles wurde mit der russischen Aggression gegen die Ukraine beendet.

„Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“

„Das Festhalten an der Annahme, mit immer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtungen langfristig zu einer Demokratisierung und Stabilisierung Russlands beizutragen, war ein Fehler“, heißt es nun klar und deutlich in einem Positionspapier, das die Kommission Internationale Politik (KIP) vorgelegt hat. Der Bundesparteitag hatte sie im Dezember 2021 damit beauftragt, Vorschläge für eine Neujustierung der Außen- und Sicherheitspolitik der SPD vorzulegen. „Der 24. Februar hat dafür gesorgt, dass diese Aufgabe noch mal dringlicher wurde“, sagt Parteichef Lars Klingbeil als er am 23. Januar das Papier vorstellt.

Unter der Überschrift „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ analysiert die KIP auf 21 Seiten die aktuelle Weltlage und zieht daraus Schlüsse für eine künftige Politik der SPD. „Das Papier deckt selbstverständlich nicht alle globalen Krisen und Handlungsfelder ab. Das war auch nicht das Ziel dieser Positionierung“, macht Lars Klingbeil bei der Vorstellung klar. „Uns geht es sehr konkret um die Frage, was sich aus dem 24. Februar ergibt.“

Ein Bruch in der Russland-Politik

So fällt der Blick auf Russland äußerst kritisch aus. „Einige Länder Europas und vor allem Deutschland haben zu lange ausschließlich auf eine kooperative Zukunft mit Russland gesetzt und damit versäumt, Szenarien für einen anderen Umgang mit Russland zu entwickeln“, heißt es in dem Papier. Die Autorinnen und Autoren stellen klar: „Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.“ Das sei „ein Bruch mit dem, was wir in der SPD bisher formuliert haben“, betont Parteichef Klingbeil.

Auch das Verhältnis zu China will er „neu bewerten“. Im Positionspapier wird die neue Rolle der Volksrepublik als geopolitischer Akteur anerkannt, „ohne dessen Mitwirkung globale Herausforderungen wie der Klimawandel, die Bekämpfung von Pandemien und Nahrungsmittelkrisen sowie die Rüstungskontrolle und die Nichtverbreitung von Atomwaffen nicht zu lösen sind“. Auch seien die europäische und die chinesische Wirtschaft eng miteinander verflochten.

Statt diese Verflechtungen zu lösen, schlägt die KIP die Entwicklung einer „europäischen Resilienzstrategie“ vor, „die Risiken verringert, auch mit Blick auf den Schutz kritischer Infrastruktur in Europa“. Zudem sollen Wirtschaftsbeziehungen diversifiziert werden, um wirtschaftliche Abhängigkeiten von China zu minimieren. Das soll nicht nur für Deutschland, sondern die gesamte Europäische Union gelten.

Ein starkes Europa als wichtigste Aufgabe

Die EU spielt aus Sicht der KIP die zentrale Rolle für die künftige internationale Politik der SPD. „Für die Sozialdemokratie ist ein starkes Europa die wichtigste politische Aufgabe der kommenden Jahre“, heißt es im Positionspapier. Dafür müsse Europa aber verändert und gestärkt werden. „Europa muss seine Rolle als geopolitischer Akteur annehmen und mehr in die eigene Sicherheit investieren.“

Eine Sicht, die auch Lars Klingbeil betont. „Ein starkes und souveränes Europa ist in meinen Augen die wichtigste politische Antwort auf die Zeitenwende“, sagt der SPD-Vorsitzende. Auch mit den Staaten Asiens und des Globalen Südens soll es eine stärkere Zusammenarbeit geben. „Wir müssen mehr Gesprächs- und Kooperationsangebote machen“, fordert Klingbeil.

Führungsrolle Deutschlands

Klare Worte enthält das Papier auch zur künftigen Rolle Deutschlands in der Welt. „In vielen außenpolitischen Debatten steht Deutschland immer mehr im Mittelpunkt. Für viele Staaten auf der Welt sind wir ein wichtiger Partner. Und genau deshalb erwarten sie, dass Deutschland auf internationaler Ebene mehr Initiative zeigt und eine Führungsrolle einnimmt“, schreiben die Autor*innen. Führung bedeute dabei nicht, „dass sich Deutschland über andere hinwegsetzt, sondern dass die Bundesregierung Stimmen und Perspektiven aufnimmt, stark macht und mit Initiativen vorangeht, um unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen“.

Im Sommer hatte SPD-Chef Lars Klingbeil mit der Forderung für Aufsehen gesorgt, Deutschland müsse den Anspruch einer „Führungsmacht“ haben. „Es gibt international die starke Erwartung an Deutschland, dass wir unserer gewachsenen Verantwortung gerecht werden“, sagt er auch bei der Vorstellung des Papiers.

Dessen Inhalt will er nun in den kommenden Monaten diskutieren, in der SPD und darüber hinaus. In Warschau hat er Anfang März bereits mit Sozialdemokrat*innen aus Nord-, Mittel- und Osteuropa diskutiert. In der SPD soll es in den Landesund Bezirksverbänden Veranstaltungen geben. „Das Papier wird breit in der Partei diskutiert werden“, verspricht Klingbeil. Die endgültige Neupositionierung der SPD in der internationalen Politik soll dann der Bundesparteitag im Dezember vornehmen.

Hier kann das Postionspapier heruntergeladen werden.

Debatte auf vorwärts.de

Der „vorwärts“ nimmt den Anstoß zur Debatte auf. In den kommenden Wochen werden Sozialdemokrat*innen aus unterschiedlichen Richtungen in Gastbeiträgen und Interviews ihre Sicht auf das Papier und die künftige Ausrichtung der SPD in der Außen- und Sicherheitspolitik darlegen.

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Kommentare

Fragen zur Zeitenwende

Die angekündigte, hoffentlich kontroverse, Debatte begrüße ich. Die NGFH haben damit schon begonnen und auch Erich Vad zu Wort kommen lassen. Der Beitrag wäre auch im Vorwärts ein optimaler Einstieg.
Ich erlaube mir folgende Fragen vorab in die Debatte zu werfen:
1. Wenn der Angriff Russlands Anlass der Zeitenwende war: ist sie mit einem Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland beendet?
2. Mit Recht verurteilen wir den völkerrechtswidrigen Angriff. Schließen wir eine Beteiligung Deutschlands an völkerrechtswidrigen Angriffen künftig (wieder) aus?
3. Bezieht sich die Distanzierung von der Entspannungspolitik der 60/70er Jahre auch auf den Nord/Süd-Ausgleich und soll die militärische Bearbeitung der zunehmenden globalen Konflikte künftig Priorität haben?
4. Bedeutet der Satz: "solange sich in Russland nichts fundamental ändert, muss die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden" die Aufgabe der Prinzipien der Nichteinmischung und der nationalstaatlichen Souveränität? Für welche Länder soll er dann gelten. Für welche nicht? Wer definiert "nichts fundamental"?
5. Wollen wir mit der Zeitenwende den Erhalt der natürlichen Biosphäre und der Klimaziele aufgeben?

20ster Jahrestag

Lieber Armin, wir haben deinen Kommentar zu dem Text gelöscht, weil er gegen Punkt 6 unserer Nettiquette verstößt.

„Das Festhalten an der Annahme,_1

mit immer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtungen langfristig zu einer Demokratisierung und Stabilisierung Russlands beizutragen, war ein Fehler“ (S. 17).
Sucht man nach den Akteuren dieser fehlerbehafteten Politik, der KIP-Text spricht da nebulös von „Deutschland“, dann sind die in einer Reihe Brandt, Steinmeier und Co zu suchen: Steinmeier hing also der fehlerhaften „Annahme“ an, „wirtschaftliche Verflechtungen tragen langfristig zu einer Demokratisierung und Stabilisierung Russlands bei“. Schlimmer noch, er hielt (bis zuletzt) an dieser dummen Annahme fest (, was ja wohl impliziert, dass er das trotz besseren Wissens getan hat). Kein Wunder, dass Steinmeier gerade noch zum Bundespräsidenten taugt.

Dass „immer stärkere wirtschaftliche Verflechtungen“ zwischen zwei Nachbarn deren Verhältnis eher gut gedeihen lässt als die komplette Abschottung oder gar eine ständige Konfrontation, kann doch ernsthaft niemand bezweifeln. Dass daraus aber zwangsläufig die „Demokratisierung und Stabilisierung Russlands“, also die Übertragung unserer politischen und gesellschaftlichen Lebensart folgt, wäre sicher eine irrige Annahme.

„Das Festhalten“_2

Ich glaube nicht, dass Steinmeier und Co derartige Tagträumer gewesen sind.

Der Verdacht drängt sich mir zwangsläufig auf, dass die Verfasser solcher Sätze einen viel elementareren Fehler der ehemaligen Protagonisten verbergen wollen, dass die nämlich die dramatischen Konsequenzen aus den unvereinbaren geostrategischen Konzepten Russlands und der Nato nicht sehen wollten, sondern darauf setzten, die Russische Föderation werde schon nachgeben. Das war allerdings ein Zeitenwenden-Fehler.