Interview mit Lothar Binding

Krieg in der Ukraine: Warum wir mehr Diplomatie wagen müssen

Vera Rosigkeit16. Februar 2023
Diplomatie trotz wachsender Distanz: Bundeskanzler Olaf Scholz versucht am 15. Februar 2022 im Gespräch mit Wladimir Putin in Moskau den Überfall Russland auf die Ukraine zu verhindern.
Diplomatie trotz wachsender Distanz: Bundeskanzler Olaf Scholz versucht am 15. Februar 2022 im Gespräch mit Wladimir Putin in Moskau den Überfall Russland auf die Ukraine zu verhindern.
Ein Treffen, dass Russlands Überfall auf die Ukraine nicht verhindern konnte: Bundeskanzler Olaf Scholz bei Wladimir Putin in Moskau am 15. Februar
Ein Treffen, dass Russlands Überfall auf die Ukraine nicht verhindern konnte: Bundeskanzler Olaf Scholz bei Wladimir Putin in Moskau am 15. Februar
Für den SPD-Politiker Lothar Binding ist es an der Zeit, im Ukraine-Krieg stärker auf diplomatische Anstrengungen zu setzen. Er fordert „Mehr Diplomatie wagen“ – die Erinnerung an Willy Brandt ist dabei nicht zufällig.

Die AG 60 Plus in der SPD fordert mit Blick auf den Krieg in der Ukraine „Mehr Diplomatie wagen – keine weitere Eskalation“. Was ist gemeint?

Momentan erleben wir einen schrecklichen Gewöhnungseffekt an diesen Krieg. Dieses sich gegenseitige Aufschaukeln von Medienvertreter*innen und Politiker*innen, allen voran Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die ja eigentlich Vorsitzende des Verteidigungsausschusses ist, oder auch von Anton Hofreiter oder Friedrich Merz. Sie alle befinden sich in der gleichen Kriegslogik wie der ukrainische Präsident Selenskyj: Auf jede Zusage einer Lieferung erfolgt unmittelbar eine neue Forderung nach noch mehr Kriegsgerät oder schnellerer Lieferung, was zwangsläufig zu einer Zuspitzung des militärischen Konflikts führt. Diese scheinbare Alternativlosigkeit bestimmt den Dialog und gibt eine Richtung vor: die heißt Militarisierung. Mit unserer Erklärung wollen wir den Raum öffnen und zeigen, dass es auch eine andere Richtung geben kann.

Wie könnte diese andere Richtung aussehen?

Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Grundstein durch bilaterale Verhandlungen, etwa mit Xi Jinping, Lula da Silva oder Joe Biden bereits gelegt. Auch der Gesprächsfaden mit Russlands Präsident Wladimir Putin darf nicht abreißen. Der Kanzler hat immer internationale Abstimmung angestrebt und das Ende mitgedacht. Das erkennen wir an seiner Formulierung: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen“. Auf dem Schlachtfeld gibt es keine Gewinner. Deshalb fordert der Bundesvorstand der AG SPD 60 plus: „Mehr Diplomatie wagen“ – die Erinnerung an Willy Brandt ist dabei nicht zufällig. Für uns ist es an der Zeit, stärker auf diplomatische Anstrengungen zu setzen, um auch weiterhin unter internationaler Beteiligung zu Waffenstillstands- und Friedensgesprächen zu kommen.

Die jüngste Ankündigung des brasilianischen Präsidenten Lula, gemeinsam mit China und anderen Staaten eine entsprechende Initiative zu starten, sollte nachdrücklich unterstützt werden. Aber auch Deutschland sollte eine Friedensplattform anbieten. Da werden sich aktuell nicht alle gleich versammeln, zumal Deutschland Waffen liefert. Und es ist schwer, gleichzeitig Waffen zu liefern und Friedensgespräche anzubieten, gleichwohl sollten wir in diese Richtung gehen. Hier sind die Ziele eindeutig: Am Ende von Diplomatie und Friedensgesprächen steht Frieden.

Warum verläuft die Entwicklung so eingleisig, wie Sie sagen?

Offensichtlich haben alle „Experten“, auf die sich viele stets verlassen haben, mit diesem Militärschlag einfach nicht gerechnet und im Überraschungsmoment auf gleicher Ebene reagiert: Gleiches mit Gleichem vergelten. Um solche Konflikte aber wirksam zu lösen, müssen wir die Perspektive ändern. Wenn jeder Waffeneinsatz zu einem noch stärkeren Waffeneinsatz führt, ist die Frage berechtigt, wo das enden soll. Diese Frage kann zurzeit niemand beantworten. Wir wissen: Auf dem Schlachtfeld verlieren immer alle Seiten (außer der Rüstungsindustrie) und alles Gerede von einer „roten Linie“ ist ohne Wert, denn die rote Linie wird nach Belieben verschoben – tatsächlich liegt sie jenseits des Untergangs. Deshalb müssen wir einen neuen Pfad einschlagen. Statt des einseitigen Kurses, sich auf militärische Maßnahmen zu reduzieren, muss, ganz im Sinne des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, endlich das gesamte Arsenal diplomatischer Werkzeuge zum Einsatz kommen.

Der Philosoph Jürgen Habermas nennt es in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung fatal, dass der Unterschied zwischen „nicht verlieren“ und „siegen“ nicht geklärt sei. Kommt das diesen Überlegungen nahe?

Ja. Diese zwei Dinge sind unklar. Aber wer Angriffswaffen fordert, muss erklären, was „siegen“ bedeutet. Scholz erklärt, dass Russland nicht gewinnen darf – ich übersetze „nicht gewinnen“ so, dass die Ukraine nicht unterjocht werden darf –  andere fordern, Russland müsse verlieren. Doch selbst, wenn eine der Seiten militärisch gewinnt, wird es keinen Frieden geben, da wird ein Brandherd bleiben. Ein militärischer Sieg macht keinen Frieden und es kann auch keinen europäischen Frieden ohne Russland geben. Vor diesem Hintergrund lehnen wir die Lieferung weiterer Angriffswaffen, Panzer, Kampfflugzeuge oder Kriegsschiffe an die Ukraine ab. Sie wirken allen diplomatischen Anstrengungen und Angeboten, sowie einer möglichen Verhandlungslösung entgegen. Das heißt nicht, dass sich die Ukraine überrennen lassen soll. Vielmehr müssen wir die Ukraine in einer Verteidigungsstrategie unterstützen. Wir müssen sie in der Verteidigung stark machen etwa durch Flugabwehrsysteme.

Die AG 60 plus in der SPD unterstützt die ablehnende Haltung von Bundeskanzler Scholz gegenüber den geforderten Kampflugzeugen und Kriegsschiffen. Auch sehen wir sein Nachdenken, in den Medien oft als Zögerlichkeit kritisiert, als Stärke. Dass er als Zögerer beschimpft wird, von Leuten die zwischen Nachdenklichkeit und Zögerlichkeit nicht unterscheiden können, von Leuten, die unter Führung verstehen, im Falschen voranzugehen, statt sich mit möglichst vielen abzustimmen und dann gemeinsam die richtige Richtung zu suchen und zu gehen, verrät uns, wie sehr solche Leute in ihrer Kriegslogik gefangen sind und warum wir ihnen nicht folgen dürfen.

Lothar Binding

Lothar Binding

Lothar Binding war von 1998 bis 2021 Abgeordneter im Deutschen Bundestag, seit 2012 finanzpolitscher Sprecher der SPD-Fraktion. Seit 2017 ist er Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft SPD 60 plus.

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Kommentare

wer meint, Diplomatie sei ein Wagnis, der muss

ja ein ziemlicher Angsthase sein, um es freundlich zu sagen. Wor liegt denn das einem Wagnis innewohnende Risiko- wenn mir das jemand erklärt, nehme ich den Angsthasen zurück.
Bis dahin gehe ich davon aus, das Diplomatie immer und mit jedermann geht. Selbst mit Himmler hat man verhandelt, was zur Aktion mit den weissen Bussen führte und vielen Menschen das Leben gerettet hat.

„... gefangen in ihrer Kriegslogik“_1

Angesichts der weltweiten katastrophalen Folgen des „indirekt geführten Weltkriegs“ (Zellner), von den unerträglichen Leiden der Ukraine gar nicht zu reden, ist allein wichtig, ihn schnellstens zu beenden. Um allerdings ein schnelles und dauerhaftes Ende finden zu können, müssen beide Seiten seine Entstehungsgründe halbwegs ähnlich sehen: „Der Krieg entsprang einem Konfliktfeld“ (Urban, Blätter ..., 7´22), in dem die Nato-Osterweiterung ein wichtiger Markstein ist. Die Nato erkennt aber die Osterweiterung als (Mit)Ursache des Krieges nicht an (, unsere Wortgewaltigen ächten diese Analyse kurzerhand als Putin-Narrativ). Im Gegenteil „bekräftigte“ die Nato 2022 „unseren auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest gefassten Beschluss (Vorbereitung der Aufnahme in die Nato) sowie alle nachfolgenden Beschlüsse zu Georgien und zur Ukraine“.

(War es Zufall, dass die Russische Föderation 2008 begann, kriegerisch in Georgien einzugreifen?) Bleibt die Nato aber bei ihrer strategischen Osterweiterung, gibt es für Putin kaum eine Alternative, als den Krieg - vermutlich eskaliert – weiterzuführen, bis, wie unsere Wortgewaltigen unisono postulieren, Putin besiegt ist.

„... gefangen in ihrer Kriegslogik“_2

Ob der aber bereit ist, eine Niederlage zuzulassen, ist nicht sicher. Vielleicht sollten wir uns deshalb an die alte Bauernweisheit erinnern: Der Klügere gibt nach! Mit Blick auf die Eskalationsmöglichkeiten Putins ist das alternativlos.

Versucht man die Wahrscheinlichkeit für (die gerade beschworene) Klugheit in der SPD abzuschätzen, kommt man nicht an Adis Ahmetovic vorbei , der, kaum 30 Jahre alt, adrett gekleidet (Krawatte) und mit gestylten Haaren, mit wohlgesetzten Worten, viel Anteilnahme und noch mehr Bestimmtheit den „brutalen Angriffskrieg Putins“ und die Grausamkeiten an Männern, Frauen und Kindern – Frau Baerbock, Herr Klingbeil und „die Allergeilste“ hätten ihm applaudiert – am 9.2. im Bundestag sichtbar machte und (fast schon) triumphierend endete, die Ukraine müsse und werde gewinnen.
Ob und wie das gegenüber einer gewaltigen konventionellen und zudem atomaren Weltmacht möglich wäre, musste er nicht einmal andeuten, denn Zweifel daran, da sind sich alle unsere Wortgewaltigen einig, sind ein Putin-Narrativ, also tabu.

„... gefangen in ihrer Kriegslogik“_3

Ich hätte ihn aber gern gefragt, ob er sich im Klaren darüber ist, dass er mit seinem Siegesanspruch die ukrainische Generation seines Alters, jedenfalls einen Großteil von ihnen, dem sicheren Tod übereignet? (Und jetzt meine ich nur die Soldaten.) Dass sich moderne Kriege dadurch kennzeichnen, dass die Zivilbevölkerung noch höhere Opfer bringen muss als die Front, sollte sich auch bis zu unseren jungen Abgeordneten herumgesprochen haben.

Selbst wenn wir das in Kauf nehmen – wir erinnern uns: Die Ukraine kämpft für unsere Freiheit, wie unsere Wortgewaltigen ständig den Frieden fordernden Naivlingen vorhalten – und die Ukraine Putin auf ihrem Territorium besiegen kann, „wird es keinen Frieden geben, da wird ein Brandherd bleiben. Ein militärischer Sieg macht keinen Frieden und es kann auch keinen europäischen Frieden ohne Russland geben“.

„Ganz im Sinne des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich“?

"Mehr Diplomatie wagen"

Plötzlich glaube ich wieder an Wunder: Im Presseclub (15.2.) gab es eine schon nicht mehr für möglich gehaltene Patt-Situation zwischen „Tauben“ und „Falken“ (wenn man den Moderator nicht mitrechnet); bei Maischberger (16.2.) wies Stefan Aust Helene Bubrowski zurecht, weil die das jüngste „Manifest für Frieden“ als Putin-Narrativ zerstampfte (von „Skrupellosigkeit“ und „gewissenloses Manifest“ in WAZ und Kölner Stadt-Anzeiger gar nicht zu reden) – und heute im Vorwärts Lothar Binding, der auch noch Habermas aufruft, der von unserer Presse nur deshalb nicht zerrissen wird, weil der „93-jährige Diskurs-Ethiker ... ohne Diskursteilnehmer“ ganz schön dumm dastehen würde, wäre er nicht „der berühmteste noch lebende deutsche Philosoph“ (WAZ, 18.2.).
Mit Binding haben es unsere Wortgewaltigen nicht so leicht. Aber es bleibt ja noch die nachsichtige Zurechtweisung: „subjektiv ehrenwert, objektiv aber Putin-Narrativ“.

Kriegslogik

Erneut Lob für Frau Rosigkeit. Dies ist ein differenzierter, reflektierter Beitrag. In der AG 60 Plus der SPD gibt es offenkundig noch Personen, welche die Friedenspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr noch nicht ins Historische Archiv verbannt haben. ' Mehr Diplomatie wagen ' ist der einzige Weg, der zum Erfolg - zum Frieden führen kann. Russland darf militärisch nicht siegen! Die Ukraine darf militärisch nicht siegen! Erfolg haben dürfen und müssen nur Verhandlungen, Verhandlungen, Verhandlungen. Die Diplomatie muss schnellstmöglich dazu führen, dass das Töten / Sterben aufhört. Weil jedes Menschenleben unersetzlich ist. Die Welt hat genug Elend und Hoffnungslosigkeit. Konzentrieren wir uns darauf, dass dem Elend und der Hoffnungslosigkeit bald ein Ende gesetzt wird. Die großen Menschheitsaufgaben (Ökologisches Überleben der Menschheit, Überwindung des globalen Hungers, globale Gewährleistung einer medizinischen Mindestversorgung und Realisierung der globalen Sozialen Gerechtigkeit) können nur G E M E I N S A M erreicht werden - niemals gegeneinander. Hören wir auf Willy Brandt, Egon Bahr, Lula da Silva. Papst Franziskus.

Mehr Diplomatie wagen II

Mit Bezug auf den Artikel von Frau Rosigkeit darf auch verwiesen werden auf:

https://www.naturfreunde.de/friedensresolution

Bidens Reise nach Kiew

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Bidens Reise nach Kiew - Jochen

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