Jubiläum

Was Brandts Kniefall 1970 für die Jusos bedeutete

Karsten Voigt07. Dezember 2020
Karsten Voigt als Bundesvorsitzender der Jusos 1972.
Karsten Voigt als Bundesvorsitzender der Jusos 1972.
1970 war Karsten Voigt Bundesvorsitzender der Jusos. Er beschreibt, warum Brandts Kniefall das ausdrückte, was viele Jusos empfanden. Und was das Jubiläum dieser Geste für das deutsch-polnische Verhältnis heute bedeuten könnte.

Das Jahr 1970 war von heftigen Kontroversen zwischen dem SPD-Parteivorstand und den Jungsozialist*innen gekennzeichnet: Seit ihrer Linkswende auf dem Münchener Bundeskongress im Dezember 1969 hatten die Jungsozialist*innen in fast allen Bereichen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Positionen bezogen, die im Widerspruch zu den Beschlüssen der SPD auf Bundesebene standen.

Jusos als Vorreiter der Entspannungspolitik

Die Ostpolitik Willy Brandts dagegen unterstützten die Jungsozialist*innen von Anbeginn an. Nicht ganz zu Unrecht sahen die Jusos sich als Vorreiter der Entspannungspolitik. Sie nämlich hatten die Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens bereits gefordert, als dies in der SPD noch umstritten war.

Nach meiner Wahl zum Bundesvorsitzenden der Jungsozialist*innen nahmen wir sofort den Kontakt zu Jugendverbänden der kommunistischen Parteien Osteuropas auf. Diese Kontakte sahen wir als sinnvollen Beitrag zu einer realistischen Ostpolitik an. Mit diesem Ziel leitete ich im Jahre 1970  Juso-Delegationen in die Sowjetunion, die DDR und nach Ungarn. Gleichzeitig verstärkten wir ab 1971 die ideologische Auseinandersetzung mit kommunistischen Jugendorganisationen in der Bundesrepublik und mit der kleinen, aber sehr aktiven Schar ihrer Sympathisant*innen im eigenen Jugendverband.

Sommer 1971: Erste Juso-Delegation nach Polen

Die erste Delegation der Jusos nach Polen führte uns im Sommer 1971 nach Warschau, Krakau und Auschwitz. Für mich war dieser Besuch auch Ausdruck meiner eigenen politischen Identität: Ich hatte Anfang der 60er-Jahre als erster Deutscher in Kopenhagen am dänischen Institut für Besatzungsgeschichte studiert und anschließend in Frankfurt neben meinem Studium am Auschwitz-Prozess teilgenommen: Der Initiator dieses Prozesses, Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, hatte mich gebeten, Zeugen während ihres Aufenthaltes in Frankfurt zu begleiten.

Mit seinem Kniefall in Warschau verbeugte sich der Widerstandskämpfer vor den Opfern deutscher Politik. Mit dieser Geste drückte Willy Brandt aus, was wir Jungsozialist*innen und auch ich persönlich empfanden: eine tiefe Scham, verbunden mit der Entschlossenheit, ein Wiederaufleben  von nationalsozialistischen und anderen rechtsextremen Bestrebungen von Anfang an zu verhindern. Ebenso wie Willy Brandt strebten wir eine gesamteuropäische Friedensordnung an, in der ehemalige Feind*innen durch gemeinsame Werte und Institutionen in einem unauflösbaren Netz der Zusammenarbeit verknüpft sein würden.

Brandts wichtige Botschaft

Manche haben nach Willy Brandts Kniefall am jüdischen Ghetto in Warschau bezweifelt, ob der Kniefall am Mahnmal für die jüdischen Opfer eine angemessene Geste gegenüber den nicht-jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Terrorregimes gewesen sei. Für derartige Erwägungen gab es bei den Jungsozialist*innen kein Verständnis. Für uns waren die jüdischen Opfer zumeist auch polnische Opfer und die polnischen Opfer häufig auch Jüd*innen. Die Auflistung unterschiedlicher Kategorien von Opfern des Nationalsozialismus war uns fremd.

Willy Brandt war Emigrant und Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Als deutscher Bundeskanzler aber drückte er mit seinem Kniefall die Mit-Verantwortung aller Deutschen für diesen barbarischen Teil unserer Geschichte aus. Diese Botschaft richtete sich an seine polnischen Gastgeber*innen. Für uns Jungsozialist*innen aber war sie noch wichtiger als Botschaft an jene Deutschen, die eine Mit-Verantwortung nur bei dem kleinen Kreis der als Verbrecher verurteilten Nationalsozialisten sahen, ansonsten aber von der Stunde Null im Mai 1945 faselten, so als hätte es nach 1945 in Wirtschaft, Beamtenapparat und Politik nicht auch ein bedrückendes Maß an Kontinuität gegeben.

Wir Jungsozialist*innen – und nicht nur wir – hatten 1970 gehofft, dass sich aus der Entspannungspolitik schrittweise eine gesamteuropäische Ordnung des Friedens und der Freiheit entwickeln würde. Einige dieser Hoffnungen haben sich als Ergebnis einer beharrlichen Politik der kleinen Schritte erfüllt. Die vielen kleinen Schritte führten Ende der 80er Jahre zu friedlichen und zugleich revolutionären Veränderungen. Polen hat hierzu entscheidend beigetragen. Ohne den Mut und die Ausdauer der polnischen Gesellschaft und der polnischen Politik wären die Entwicklungen damals nicht so positive verlaufen.

Deutsch-polnische Zusammenarbeit der kleinen Schritte

Durch die Osterweiterung der EU und der NATO wurde das vereinigte Deutschland ebenso wie vorher bereits im Westen auch im Osten in ein Netzwerk der multilateralen Zusammenarbeit einbezogen. Im Oktober 1995 wurde ich als damaliger Präsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO eingeladen, eine Rede vor dem Plenum des polnischen Sejm zu halten. Damals gab ich meiner Hoffnung Ausdruck, dass die gemeinsame Mitgliedschaft von Deutschland und Polen in der EU und der NATO beide Länder durch gemeinsame Interessen und Werte dauerhaft verbinden würde.

Ich hoffte damals zugleich, dass dieses Mehr an Sicherheit Polen zu einem aktiven und konstruktiven Partner einer gesamteuropäischen Politik werden lassen würde. Tatsächlich folgten viele Jahre einer gemeinsamen deutsch-polnischen Europapolitik. Negative Veränderungen in der russischen Politik und eine heute doch sehr engstirnige polnische Regierungspolitik haben diese Phase deutsch-polnischer Gemeinsamkeiten unterbrochen.

Aber das muss ja nicht das Ende sein. Der Rückblick auf 1970 sollte uns Mut machen – vielleicht mit einer Politik der kleinen Schritte – die deutsch-polnische Zusammenarbeit wieder zum Motor von europapolitischen Initiativen zu machen.

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Kommentare

Karsten Voigt

Leider ist er mittlerweile auch einer von diesen Atlantikern geworden, die von der Friedens- und Abrüstungspolitik Willy Brandts abgerückt sind.
Da hilft auch eine Sonntagsrede nicht um darüber weg zu täuschen.
In welchen ......organisationen der USHegemonie er Mitglied ist steht ja bei Wikipedia.

Karsten Voigt

Ja, leider gehört auch Karsten Voigt zu den ehemaligen Juso-Vorsitzenden, die später, als sie Karriere gemacht hatten, vergessen hatten, was sie früher vertreten haben. Prominentestes Beispiel war Gerhard Schröder. Zum Glück gab es auch Vorstandsmitglieder, die ihrer Linie treu geblieben sind wie z.B. Ottmar Schreiner.