50 Jahre Kniefall

Donald Tusk: Warum Brandts Botschaft wichtig für Europa ist

Jonas Jordan07. Dezember 2020
Der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk spricht zum Gedenken an 50 Jahre Kniefall von Willy Brandt.
Der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk spricht zum Gedenken an 50 Jahre Kniefall von Willy Brandt.
Zum 50. Jahrestag von Willy Brandts Kniefall spricht der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk über dessen Bedeutung für die polnische Geschichte. Die Geste des damaligen Bundeskanzlers sei heute noch genauso gültig und wichtig wie eh und je.

Eigentlich hatte das Willy-Brandt-Forum in Unkel für den Nikolaustag eine große Festveranstaltung zum 50. Jahrestag von Willy Brandts Kniefall geplant. Ehrengast sollte Donald Tusk sein, langjähriger polnischer Ministerpräsident und von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates. „Es lag auf der Hand, zum 50. Jahrestag einen Repräsentanten Polens um die Gedenkrede zu bitten“, so Christoph Charlier, der Vorstandsvorsitzende des Willy-Brandt-Forums. Bedingt durch die Corona-Pandemie konnte die Veranstaltung allerdings nicht wie geplant vor Ort stattfinden, sondern rein digital.

Ein Kniefall, der nicht ins Narrativ passte

Tusk, zum Zeitpunkt von Brandts Kniefall 13 Jahre alt, verwies darauf, dass er die Originalbilder dieser weltberühmten Geste wohl erst Jahre später gesehen habe. „Erst viele Jahre später wurde mir die wirkliche politische und symbolische Bedeutung dieser Geste klar, und ihr tatsächlicher Ablauf“, sagte Tusk. Für den Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei Polens Władysław Gomułka sei der Besuch Willy Brandts zwar die Krönung seiner jahrelangen Bemühungen um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gewesen. Allerdings passte es nicht ins offizielle Narrativ der kommunistischen Führung, dass Brandt ausgerechnet vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniete. „Gomułkas Verlegenheit war auch deswegen so groß, weil dieser gerade erst vor 20 Monaten eine ekelhafte antisemitische Kampagne losgetreten hatte wegen der Tausende polnischer Juden – Holocaust-Überlebende – das Land für immer verlassen hatten“, erläuterte Tusk.

In Polen sei die Erinnerung an Brandts Kniefall zudem kurz darauf durch andere Ereignisse überlagert worden. Nur sechs Tage später beschloss Gomułka eine drastische Erhöhung der Lebensmittelpreise. Schon am Tag darauf brachen Proteste aus, die von Polizei und Militär blutig niedergeschlagen wurden. „In meiner Stadt brannte die Zentrale der Kommunistischen Partei, auf streikende Werftarbeiter und Demonstranten wurde in den Straßen geschossen, und zufällige Passanten niedergeknüppelt. Zum ersten Mal im Leben spürte ich am eigenen Leib, was Unterdrückung durch ein autoritäres System eigentlich heißt“, berichtet der gebürtiger Danziger Tusk. Zum Symbol des Jahres 1970 sei sowohl für ihn als auch für das kollektive Gedächtnis der Polen nicht die historische Geste Brandts, sondern Tote und Brände in den Straßen von Danzig geworden. 

„Man musste irgendetwas tun“

Tusk zitierte Brandts eigene Kommentierung des Kniefalls. „Man musste irgendetwas tun“, soll der damalige Bundeskanzler zur Erläuterung im Familienkreis gesagt haben. Wenn er heute zurückschaue, verstehe er sehr gut, wie wichtig dieser ganz einfache Imperativ sei, so Tusk. „Ich weiß ja nicht genau, wie es in Wirklichkeit ablief, aber ich will glauben, dass er niederkniete, weil man etwas tun muss. So wie damals, als er eine norwegische Uniform anzog. So wie diese Polen, die unter Lebensgefahr in der Shoah Juden versteckten, so wie die Danziger Arbeiter, die sich den Panzern entgegen stellten. So wie heute die Frauen in Minsk, in Belarus, die demonstrieren, obwohl sie niedergeknüppelt werden.“ Ebenso gelte dieser Imperativ für die Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto.

Diese essentielle Botschaft sei heute so gültig und so wichtig wie eh und je. „Ich möchte sie allen Europäern widmen, und besonders den europäischen Politikern. Wenn wir unseren Werten treu bleiben wollen, dann müssen wir manchmal niederknien. Und manchmal auf den Barrikaden stehen. Mutig und kompromisslos im Angesicht des Bösen, bescheiden im Angesicht der Wahrheit und des Leidens“, sagte Tusk.

Dreyer: „ein starkes Symbol für Frieden in Europa“

Für die rheinland-pfälzische Ministerpräsident Malu Dreyer ist der Kniefall von Warschau „ein starkes Symbol für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem innigen Wunsch, die Vision eines in Frieden vereinten Europas zu realisieren“. Für diesen Frieden seien alle Menschen in allen europäischen Staaten verantwortlich und müssten diesen kontinuierlich pflegen. Beispielhaft für diese Freundschaftspflege erwähnt Dreyer die guten Beziehungen von Rheinland-Pfalz nach Polen.

Sie selbst sei damals als junges Mädchen tief beeindruckt gewesen von diesem Moment der Demut und der damit verbundenen Bitte um Vergebung stellvertretend für Millionen Deutsche. „Es war eine Geste auf die die ganze Welt schaute – und sie markierte symbolisch einen Wendepunkt in der deutschen Ostpolitik sowie der Verständigung zwischen den beiden Völkern Polens und der Bundesrepublik“, sagte Dreyer. Der Kniefall sei begleitet gewesen von einem universellen Friedensgedanken und der Überzeugung, dass Europa aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren sei. Durch seine Geste habe Brandt Verantwortung übernommen für die Vergangenheit – aber auch für eine friedliche Zukunft innerhalb Europas, die die Menschen auf dem Kontinent so dringend benötigten.

weiterführender Artikel