Erster SPD-Bundeskanzler

Willy Brandts Kniefall: Eine Geste wird zum Symbol der Entspannung

Thomas Horsmann07. Dezember 2022
„Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau
„Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau
Mit seinem Kniefall in Warschau setzt Willy Brandt am 7. Dezember 1970 ein unvergessliches Zeichen der Versöhnung. Aus konservativen Kreisen wird er dafür massiv angefeindet. Am Ende ebnet die Entspannungspolitik den Weg zur Deutschen Einheit.

Der 7. Dezember 1970 ist ein kalter und regnerischer Montagmorgen in Warschau. Im Herzen der polnischen Hauptstadt am Denkmal der Helden des Ghettos, das an den Aufstand von 1943 erinnert, als die dort gefangenen Juden gegen ihre Deportation in Vernichtungslager protestierten, ist eine Ehrenformation der polnischen Armee aufmarschiert. Dicht gedrängt beobachten Journalist*innen und Fotograf*innen, wie Bundeskanzler Willy Brandt die schwarz-rot-goldenen Schleifen des mit weißen Nelken geschmückten Kranzes richtet. Er tritt einen Schritt zurück und verharrt vor dem Ehrenmal, dann fällt er auf die Knie und neigt demütig den Kopf.

Eine spontane Geste, mit der der Kanzler um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bittet. Eine historische Geste, die Symbol für die neue Ost- und Entspannungspolitik der SPD und der sozialliberalen Koalition wird.

Brandt: Es war nicht geplant

„Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob so etwa geplant gewesen sei“, schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen. „Nein, das war sie nicht. Meine engen Mitarbeiter waren nicht weniger überrascht als jene Reporter und Fotografen, die neben mir standen, und als jene, die der Szene ferngeblieben waren, weil sie ‚Neues‘ nicht erwarteten.“ Er habe das Gefühl gehabt, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Der Grund für die Reise des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bun­desrepublik ist die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags mit Polen über die Grundlagen der beiderseitigen Beziehungen. Die Bundesrepublik erkennt darin die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens an und verzichtet auf Gebiets­ansprüche. Eine totale Abkehr von der Ostpolitik der CDU/CSU, die die Nachkriegszeit bisher prägt.

Der Warschauer Vertrag und der bereits im August 1970 unterzeichnete ­Moskauer Vertrag sind wichtige Meilensteine der neuen Ostpolitik, die von Brandt und Egon Bahr entworfen wird. Ihre Formel des Erfolges lautet „Wandel durch Annäherung“. Fast ein Jahr intensiver Verhandlungen, die von Egon Bahr geführt werden, gehen den Verträgen voraus.

Widerstand von CDU und CSU

Der Kniefall von Warschau und die Entspannungspolitik der SPD werden weltweit beachtet und gewürdigt. In Deutschland allerdings führt die neue Ostpolitik bei der oppositionellen CDU/CSU und bei den ­Vertriebenenverbänden zu heftigen Protesten. Sie sprechen vom „Ausverkauf der deutschen Interessen“ und von der Gefahr einer andauernden Spaltung Deutschlands. Brandt kontert staatsmännisch: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“ Die Auseinandersetzungen werden im Bundestag anderthalb Jahre lang erbittert geführt. Erst im Mai 1972 werden Moskauer und Warschauer Verträge schließlich endgültig ratifiziert.

Die spätere Geschichte zeigt, dass Brandt mit seiner Entspannungspolitik auf dem richtigen Weg ist, denn 1971 folgt das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin, das den Zugang zum Westteil der Stadt sichert. Im Dezember 1972 wird der Grundlagenvertrag mit der DDR unterzeichnet. Die neue Ostpolitik findet im Dezember 1973 ihren Abschluss mit dem Prager Vertrag. Damit ist der Status quo in Osteuropa anerkannt und der Weg für weitere Annäherung geebnet. Die neue Ostpolitik ist der erste Schritt eines noch langen Weges zur Wieder­vereinigung, die 1990 vollzogen wird.

Doch soweit ist es 1970 noch nicht. In einer Umfrage in Deutschland, die kurz nach der Vertragsunterzeichnung in Warschau erstellt wird, halten 41 Prozent der Deutschen Brandts Kniefall für angemessen, 48 Prozent lehnen die Geste ab. Da ist man im Ausland schon weiter: 1971 erhält Willy Brandt für seine Entspannungspolitik den Friedensnobelpreis.

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Kommentare

Kniefall kontra Reinfall

Von einer solchen Entspannungspolitik sind wir mittlerweile (leider) wieder meilenweit entfernt.

Zitat: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Manchmal wünscht man sich, dass heutigen Politiker/innen öfter mal die Sprache versagen würde...
Wenn man die Rhetorik von Frau Karrenbauer und von Herr Maas mit der Brandt's vergleicht, bleibt einem nur noch Fremdschämen.

Von einer solchen Entspannungspolitik entfernt

Ja leider immer mehr durch AKK's Aufrüstung, Sanktionen von Maas und leider auch der zustimmenden Haltung der SPD in diesen Fragen. WillY Brandt würde möglicherweise wie während der Weimarer Republik aus der SPD austreten, wenn er erführe, was aus seiner Entspannungspolitik gemacht wurde. Aus dem Volk guter Nachbarn, das er lt. Regierungserklärung von 1969 sein wollte, wird ein Volk mit zunehmenden Waffen und Bedrohung.
Dagegen werden Despoten, die ihr Nachbarland besetzen, noch unterstützt.

...werden Despoten, die ihr Nachbarland besetzen ... unterstützt

Meinen Sie den Landnehmer, Besetzer und Mafiaboß Putin? Den unterstützt DIE LINKE und die AfD, aber nicht die SPD. Da geht wie so oft bei Ihnen wieder einiges durcheinander wie auch die "zunehmenden Waffen und Bedrohung", die von unserem Volk ausgehen soll ebenso wie die unbegründete Mutmaßung, Willy Brandt würde heute aus der SPD austreten.

Zweierlei Maas

Wer Serbien überfällt, das Kosovo abtrennt und zu einem Satelitenstaat macht, der sollte wenigstens das Votum der Bewohner der Krim akzeptieren ! Genausowenig wie man sich mit den Faschisten in der afd gemeinmachen darf, darf man sich mit den Ukrainischen Faschisten zusammenrotten.

...werden Despoten, die ihr Nachbarland besetzen ... unterstützt

Die Worte "Da geht wie so oft bei Ihnen wieder einiges durcheinander" wären bei anderen Kommentatoren von der Redaktion als Verstoß gegen die Netiquette gewertet worden. Aber mir gegenüber darf man wohl so etwas ausdrücken?

Und um es klar auszudrücken, mit dem Despoten habe ich Erdogan gemeint.

Entspannungspolitik und SPD

Carl von Ossietzky am 08.12.1931:
"Der Krieg ist ein besseres Geschäft als der Friede. Ich habe noch niemanden gekannt, der sich zur Stillung seiner Geldgier auf Erhaltung und Förderung des Friedens geworfen hätte. Die beutegierige Canaille hat von eh und je auf Krieg spekuliert."
HEUTE:
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU, setzt mit dem Verweis auf die aggressive Politik der Großmacht Russland auf die USA als
deutsche Schutzmacht.
Zur Sache: Allein 2019 haben die USA für Rüstung 732 Milliarden Dollar ausgegeben, China 261 Milliarden, Russland 65,1 Milliarden und das von Frau Kamp Karrenbauer wieder gern als militärische Großmacht gesehene
Deutschland umgerechnet 49,3 Milliarden Dollar. Frau AKK sollte die Grundrechenarten bemühen! Wie weit soll dieser Rüstungswahnsinn noch getrieben werden? Die Weltmächte können den gesamten Planeten schon jetzt -und seit mindestens 20 Jahren!- vielfach militärisch in Schutt und Asche legen! Es ist allerhöchste Zeit für Entspannung! Die einsparbaren
zig Milliarden Dollar müssen dann zwingend eingesetzt werden zur globalen Bekämpfung von Hunger, Elend, Ausbeutung, Unterdrückung und zur Bewahrung der Schöpfung! JETZT !

Entspannungspolitik und SPD

Die für die Rüstung weltweit verschwendeten Milliarden sind in der Tat eine Schande für die Menschheit. Aber ohne eine starke Bewaffnung und glaubhafte Abschreckung setzen die Demokratien des Westens und der EU in der Systemkonkurrenz mit totalitären Systemen wie in Russland oder China unsere Freiheit und unseren Wohlstand auf Spiel. Wohin es führt, einem Diktator nachzugeben, konnten wir 1938 erleben als Frankreich und England Hitler die Tschechoslowakei auf dem Silbertablett überreichten und damit dessen Appetit auf mehr ebenso anfachten wie den Jubel seiner dummen Anhänger auf dem Marsch in den unvermeidlichen Untergang.

Einfach

Jaja, die Systenkonkurenz. Historisch bestand sie für die NATO (Freier Westen) nie zu den faschistischen Militärregierungen damals in Spanien Portugal, Griechenland, Türkei ......Suharto. Und auch heute sehe ich da keine Distanz des Wertewestens zu Leuten wie Guaido, Bolsonaro, Anez, Erdoghan, Modi ...... . Da gehr es nämlich nicht um Demokratie sondern um knallharte imperialistische Wirtschaftsinteressen. Dem Wertewesten gefällt es ja auch besser (seit mehr als 40 Jahren), wenn "unser" Phosphat vom marokanischen Despoten geliefert wird, als von einer frei gewählten Regierung in einem unabhängigen Staat der Sahrauis.