Der 7. Dezember 1970 ist ein kalter und regnerischer Montagmorgen in Warschau. Im Herzen der polnischen Hauptstadt am Denkmal der Helden des Ghettos, das an den Aufstand von 1943 erinnert, als die dort gefangenen Juden gegen ihre Deportation in Vernichtungslager protestierten, ist eine Ehrenformation der polnischen Armee aufmarschiert. Dicht gedrängt beobachten Journalist*innen und Fotograf*innen, wie Bundeskanzler Willy Brandt die schwarz-rot-goldenen Schleifen des mit weißen Nelken geschmückten Kranzes richtet. Er tritt einen Schritt zurück und verharrt vor dem Ehrenmal, dann fällt er auf die Knie und neigt demütig den Kopf.
Eine spontane Geste, mit der der Kanzler um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bittet. Eine historische Geste, die Symbol für die neue Ost- und Entspannungspolitik der SPD und der sozialliberalen Koalition wird.
Brandt: Es war nicht geplant
„Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob so etwa geplant gewesen sei“, schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen. „Nein, das war sie nicht. Meine engen Mitarbeiter waren nicht weniger überrascht als jene Reporter und Fotografen, die neben mir standen, und als jene, die der Szene ferngeblieben waren, weil sie ‚Neues‘ nicht erwarteten.“ Er habe das Gefühl gehabt, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“
Der Grund für die Reise des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik ist die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags mit Polen über die Grundlagen der beiderseitigen Beziehungen. Die Bundesrepublik erkennt darin die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens an und verzichtet auf Gebietsansprüche. Eine totale Abkehr von der Ostpolitik der CDU/CSU, die die Nachkriegszeit bisher prägt.
Der Warschauer Vertrag und der bereits im August 1970 unterzeichnete Moskauer Vertrag sind wichtige Meilensteine der neuen Ostpolitik, die von Brandt und Egon Bahr entworfen wird. Ihre Formel des Erfolges lautet „Wandel durch Annäherung“. Fast ein Jahr intensiver Verhandlungen, die von Egon Bahr geführt werden, gehen den Verträgen voraus.
Widerstand von CDU und CSU
Der Kniefall von Warschau und die Entspannungspolitik der SPD werden weltweit beachtet und gewürdigt. In Deutschland allerdings führt die neue Ostpolitik bei der oppositionellen CDU/CSU und bei den Vertriebenenverbänden zu heftigen Protesten. Sie sprechen vom „Ausverkauf der deutschen Interessen“ und von der Gefahr einer andauernden Spaltung Deutschlands. Brandt kontert staatsmännisch: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“ Die Auseinandersetzungen werden im Bundestag anderthalb Jahre lang erbittert geführt. Erst im Mai 1972 werden Moskauer und Warschauer Verträge schließlich endgültig ratifiziert.
Die spätere Geschichte zeigt, dass Brandt mit seiner Entspannungspolitik auf dem richtigen Weg ist, denn 1971 folgt das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin, das den Zugang zum Westteil der Stadt sichert. Im Dezember 1972 wird der Grundlagenvertrag mit der DDR unterzeichnet. Die neue Ostpolitik findet im Dezember 1973 ihren Abschluss mit dem Prager Vertrag. Damit ist der Status quo in Osteuropa anerkannt und der Weg für weitere Annäherung geebnet. Die neue Ostpolitik ist der erste Schritt eines noch langen Weges zur Wiedervereinigung, die 1990 vollzogen wird.
Doch soweit ist es 1970 noch nicht. In einer Umfrage in Deutschland, die kurz nach der Vertragsunterzeichnung in Warschau erstellt wird, halten 41 Prozent der Deutschen Brandts Kniefall für angemessen, 48 Prozent lehnen die Geste ab. Da ist man im Ausland schon weiter: 1971 erhält Willy Brandt für seine Entspannungspolitik den Friedensnobelpreis.