Jubiläum

50 Jahre Grundwertekommission: SPD bleibt die Partei, die diskutiert

Vera Rosigkeit23. November 2023
Die Vorsitzende er SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan mit Wolfgang Thierse
Die Vorsitzende er SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan mit Wolfgang Thierse
Von Haushaltssperre über Schuldenbremse bis hin zu einer Kritik an der deutschen Nahost-Politik – 50 Jahr nach Gründung der SPD-Grundwertekommission bleiben die Diskussionen weiter kontrovers.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – diese Grundwerte gehören für die Sozialdemokratie zusammen. Für die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan, ist Freiheit dabei eng verbunden mit der Gerechtigkeitsfrage. Es gehe um eine Freiheit für alle, gleichbedeutend mit gleichen Chancen, frei und selbstbestimmt leben zu können, betont sie am Mittwoch im Berliner Willy-Brandt-Haus. Für Schwan wird hier ein Sondermerkmal der Sozialdemokratie sichtbar, da es in dieser Art von keiner anderen der konkurrierenden Parteien so betont werde, erklärt sie. Vor 50 Jahren habe Willy Brandt die Grundwertekommission mit der Begründung ins Leben gerufen, dass es gut wäre, wenn die Sozialdemokratie nicht „irgendeine Politik, sondern eine werteorientierte Politik macht“. Die Grundwerte seien der Kompass, Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu finden.

Klingbeil warnt vor Kürzungen am Sozialstaat

Herausforderungen gibt es aktuell zahlreiche. Neben einem neuen Imperialismus sieht Schwan eine Ursache für weltweite kriegerische Konflikte in der grassierenden Ungleichheit an materiellen Gütern und kultureller politischer Teilhabe. „Wir müssen die Ungleichheit nicht nur an sozialer Ausstattung, sondern auch an politischer Macht sehr ernst nehmen, damit wir nicht unsere Freiheit und unsere Demokratie verlieren“, sagt sie. Demokratie brauche Gerechtigkeit. Für die anstehende notwendige Transformation der Gesellschaft hin zum klimafreundlichen Wirtschaften ergebe sich hieraus die Frage, wie sie gerecht gestaltet werden könne und welche Rolle der Staat dabei spiele? Für Schwan ist das angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Sondervermögen, das eine Lücke von 60 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt reißt, eine besondere Herausforderung. „Ich hoffe sehr, dass die Koalition einen Ausweg findet, der nicht einfach nur in Kürzungen besteht“, betont sie.

SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil
SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil

Auch SPD-Chef Lars Klingbeil sieht in dem Urteil eine enorme Bewährungsprobe für die Koalition und der Politik insgesamt. Von der Regierung erwartet er, dass sie „zeitnah, schnell und grundlegende Antworten“ darauf findet. Wer der Meinung sei, in einer Phase großer Verunsicherung und Umbrüche, Investitionen in den klimaneutralen Umbau dieser Gesellschaft abzubrechen, „der schadet am Ende dem Land“, stellt er klar. Dabei sieht Klingbeil den klimaneutralen Umbau als Chiffre für wirtschaftliche Stärke. Und er spricht eine Warnung aus an jene, die „schon immer ein Problem mit einem starken und handlungsfähigen Staat hatten“. Jenen, die der Meinung seien, diese Krise nutzen zu können, „um die Axt an den Sozialstaat zu legen, setze ich als sozialdemokratischer Vorsitzender entgegen: Nicht mit uns!“

Susan Neiman kritisiert deutsche Nahost-Politik

Philosophin Susan Neiman

Gerade in einer Phase der Umbrüche, in denen Menschen Sicherheit brauchen, komme es auf den Sozialstaat an. „Wir werden nicht zulassen, dass jetzt gekürzt und gespart wird“. Stattdessen bringt Klingbeil die Schuldenbremse ins Spiel. Wenn diese eine Bremse für Wachstum und Innovation sei, „dann muss sie reformiert werden“. Wohlstand sei mehr als das „Bruttosozialprodukt und die Rendite von Unternehmen“, sagt Klingbeil. Wohlstand sei ein Erfolg, der allen zugutekommen müsse.

Der klimaneutrale Umbau der Gesellschaft soll aus Sicht des Sozialdemokraten ein „Wohlstandsmotor für künftige Generationen“ werden. So sei es im Leitantrag für den Bundesparteitag der SPD im Dezember „Zusammen für ein starkes Deutschland“ auch angelegt. Die Grundwertekommission habe daran mit gearbeitet.

Warum es wichtig ist, sich auf Grundwerte zu beziehen, dafür gibt die Philosophin Susan Neiman ein Beispiel. "Wenn wir voraussetzen, dass Menschen nur von materiellen Eigeninteressen getrieben werden, hat der Neoliberalismus unsere Seelen erobert“, erklärt sie mit Bezug auf eine Aussage der ehemaligen britischen Premierministerin Maggie Thatcher: „Economics are the method, the object is to change the soul.” Auch deshalb sei es wichtig, Werte glaubwürdig zu vertreten. Die aktuelle deutsche Nahost-Politik sieht Neiman nicht als wertegeleitet. Denn diese sei weder auf die Zukunft gerichtet, „noch auf die Gegenwart, sondern auf die deutsche Vergangenheit“, erklärt die Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.

Kevin Kühnert spricht von Verpflichtung

Die aus ihrer Sicht „bedingungslose Unterstützung von allem, was die israelische Regierung macht“ sieht sie kritisch. Diese sei von Nationalismus und Machtansprüchen geprägt. „Wenn Deutschland seine Nazi-Vergangenheit wieder gutmachen will, wäre die Forderung nach einer politischen Lösung die beste mögliche Gelegenheit“, betont sie. Auch eine wirksame Unterstützung Israels müsse an die Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekoppelt sein, lautet ihre Forderung. Das müsse für Palästinenser ebenso gelten wie für Israelis. Die gebürtige Amerikanerin sieht den Kampf gegen Antisemitismus instrumentalisiert, um „braune Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen“. Sie verweist darauf, dass mehr als 80 Prozent aller antisemitistischen Straftaten von weißen, rechten Deutschen begangen würden.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert möchte diese Stellungnahme nicht unkommentiert lassen. Er nennt es eine „steile These“ zu behaupten, dass in unserer Gesellschaft zu wenig Kritik an Israel geübt werde. An keiner anderen Regierung der Welt werde so viel Kritik geäußert, betont Kühnert. Vielmehr verspüre er als Sozialdemokrat und Antifaschist eine besondere Verpflichtung dafür, dass es für Jüdinnen und Juden in Deutschland jederzeit eine „Exittür“ gebe. Der Staat Israel biete diesen einen „jüdischen Schutzraum“ in der Welt. Die Gewissheit, dass dieser Schutzraum zur Verfügung steht, ist seit dem 7. Oktober nicht mehr gegeben, so Kühnert.

Die Vorsitzende der Grundwertekommission Gesine Schwan kann zufrieden sein mit der Diskussion zum 50. Jubiläum. Es gehe darum, dass die ganze Partei eine sein sollte, die diskutiert, betont sie. Das sei auch für führende Politiker*innen wichtig. Nur, wenn eine Partei diskutiere, habe sie auch Schubkraft, ist sie überzeugt.

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Kommentare

"Leitantrag für den Bundesparteitag im Dezember"

Am 20.1.23 hat die „SPD Kommission internationale Politik“ die ansonsten anonymen „sozialdemokratischen Antworten auf eine Welt im Umbruch“ veröffentlicht, die nicht weniger bedeuten als die „Neuausrichtung sozialdemokratischer internationaler Politik“ – und nicht nur der. Die Grundwerte-Kommission, versprach der Vorwärts, werde dazu Stellung nehmen. Statt derer Stellungnahme kam der „Entwurf für einen Leitantrag für den Bundesparteitag im Dezember, der ´sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ formulieren“ sollte (6.11.23). Jetzt kommt der Leitantrag „Zusammen für ein starkes Deutschland“, an dem „die Grundwertekommission mitgearbeitet“ habe. Ist der „Entwurf für einen Leitantrag“ vom 6.11, der sich auf das KIP-Papier stützt, der Leitantrag „Zusammen für ein starkes Deutschland“? Wenn nicht, was steht im Leitantrag „... für ein starkes Deutschland“?

Wie kann „die Vorsitzende der Grundwertekommission Gesine Schwan zufrieden sein mit der Diskussion zum 50. Jubiläum“, wenn die „Neuausrichtung sozialdemokratischer internationaler Politik“ nicht, gar nicht darin vorkam (- falls Vera Rosigkeit richtig zusammengefasst hat)?

Und die Mitglieder?

„50 Jahre Grundwertekommission:_1

SPD bleibt die Partei, die diskutiert“ – auch wenn das etwas wenig nach 50 Jahren Arbeit ist. Aber Grundwertekommission und SPD mussten ja auch eine „Zeitenwende“ überstehen, und danach ist ja bekanntlich nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist. Wenn also die Diskussionsbereitschaft der SPD die „Zeitenwende“ überdauert hat, ist das ja nicht nichts.

Vor 50 Jahren gab es „Brandt, Bahr und Schmidt“, von denen mindestens „Bahr an den Anfang des Handelns immer das Anerkennen der Realität stellte. Die Realität heute ist die Zeitenwende, ... die der 24. Februar 2022 markiert“ (Klingbeil, 19.10.22), natürlich auch der Nahost-Konflikt. Beiden Konflikten gemeinsam ist, sie sind die vorläufigen, katastrophalen Endpunkte zwanzigjähriger Strategie der Bundesrepublik (, der EU und Nato). Schon 2003 war „die Lösung (= Zweistaatenlösung) des israelisch-arabischen Konflikts für Europa eine strategische Priorität“, wollte die EU (und damit auch die BRD), dass „östlich der Europäischen Union ... ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entsteht“, der allerdings eine seltene runde Form annehmen sollte, weil er nämlich den „Südkaukasus ...ebenfalls zu einer Nachbarregion“ gemacht hätte (EUROPÄ

50 Jahre Grundwertekommission:_2

ISCHE SICHERHEITSSTRATEGIE, Brüssel, den 12. Dezember 2003). Strategien, die im Krieg enden, sind katastrophal gescheitert – oder kann man das anders werten?

Fundamental neu fängt die SPD allerdings trotz der „Zeitenwende“ nicht an, denn „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, das Streben nach Frieden – das sind und das bleiben die Ziele sozialdemokratischer Außenpolitik“ (19.10.22), nur eben mit einer „grundlegenden Neupositionierung“ (Klingbeil, 19.11.22). „Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“. Diese Rolle ist, griffig beschrieben, „die Hand, die wir ausstrecken, muss stark sein“, etwas weniger blumig: „Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“. (Klingbeil, 21.6.22). Noch deutlicher Pistorius: "Wir müssen kriegstüchtig werden, ... und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen." (Zeit Online, 12.11.23). Und das nicht nur weil angegriffen – „unser herkömmliches Konzept“, sondern „die erste Verteidigungslinie wird oftmals im Ausland liegen“ – „Europäische Sicherheitsdoktrin, 14.12.2003 (Friedensratschlag)“.

50 Jahre Grundwertekommission:_3

Geographisch gilt diese Sicherheitsstrategie nicht nur für die BRD, die EU und den Nordatlantik und seine Anrainer, sondern auch für „den Indo-Pazifik, eine der zentralen Regionen, wenn wir auf Sicherheit und Wohlstand im 21. Jahrhundert schauen“ (BMV: Pistorius in Singapur). Dass dazu „Europa seine Rolle als geopolitischer Akteur annehmen und mehr in die eigene Sicherheit investieren muss“ (z. B.: 6.11.23), versteht sich von selbst. Selbsterklärend ist auch, dass wir das „Konzept der gemeinsamen Sicherheit“ aufgeben und stattdessen „Sicherheit künftig ´gegen Russland´ organisieren müssen“ und, wo wir schon mal dabei sind, auch vor dem „immer aggressiver auftretenden Reich der Mitte“ (15.11.23). Für Empfindsame „die Sprache der Macht“ in die der Diplomatie übertragen: „Verhandlungen am besten ´aus einer Position der Stärke heraus´ führen“. Klingbeil würde noch hinzufügen, das haben wir „von Brandt, Bahr und Schmidt gelernt“ (19.10.22). Wirklich wasserdicht wird dieser Wahnsinn aber erst dadurch, dass „die Grundwertekommission daran mit gearbeitet habe“.

Grundwerte

Es ist ja richtig, wenn die Grundwerte unserer Partei immer noch diskutiert und hoch gehalten werden.

Das Problem besteht aber leider darin, dass die praktische Politik sich zunhemend von diesen Grundwerten zu entfernen scheint. Denn wenn die Reichen stets - gerade in Anbetracht der täglich vielfach zitierten 60-Mrd. Lücke - geschont, bei den Sozialabgaben aber gekürzt wird, bleiben die Grundwerte Gleichheit und Solidarität vollkommen auf der Strecke.

Und in der Presse erfährt man nur, was Merz, die Grünen und die FDP sagen, nicht aber, was die SPD will. Dabei ist sie doch derzeit immer noch die größte BT-Fraktion und - leider mit immer geringer werdendem Abstand - die größte Partei Deutschlands.