Der Begriff des Coming-Outs ist ursprünglich mit queeren Menschen verknüpft: In gewisser Weise „kommt“ oder „tritt“ mensch ein Leben lang immer wieder (quasi aus dem Verborgenen) „raus“, wenn man erzählt, dass man nicht mit „der Frau“, sondern mit „dem Mann“ im Urlaub ist, sich nicht als männlich oder weiblich bezeichnet oder beim Begehren nicht zwischen Geschlechtern unterscheidet. Inzwischen ist im Englischen dieser Ausdruck allerdings auch für andere Kontexte entliehen worden: Mindestens aus dem US-Amerikanischen hört man immer wieder Aussagen wie „I came out as an atheist“, „I came out as not being religious“ oder Variationen davon, mit denen Menschen ausdrücken, dass sie nicht religiös sind oder an einen Gott glauben.
Dass dieser Ausdruck für diesen Zweck geborgt wird, deutet auf gewisse Gemeinsamkeiten hin: nämlich, dass diese Menschen für das, was sie da eröffnen, sich erklären, vielleicht sogar rechtfertigen müssen und mit Unverständnis oder gar Ablehnung zu rechnen haben. Ist die gemeinsame Verwendung dieses Ausdrucks von Atheist:innen, Nichtreligiösen und anderen damit auch ein erstes, schwaches Zeichen einer gemeinsamen Identität oder mindestens Idee?
Säkularität, Humanismus und noch mehr
Für eine gemeinsame Identität stehen die Vorzeichen nicht unbedingt günstig, denn schon Atheist:in zu sein schließt nicht aus, einer durchaus spirituellen Weltanschauung anzuhängen (ebenso wenig, wie Kirchenmitgliedschaft zugleich Gläubigkeit bedeuten muss). Ein gutes Beispiel ist hierfür die weltweit zunehmende ökologisch geprägte Spiritualität, wie sie zum Beispiel von Bron Taylor in seinem Buch „Dunkelgrüne Religion“, ins Deutsche übersetzt von Kocku von Stuckrad, beschrieben wird. Wer säkular eingestellt ist, also für einen religions- und weltanschauungsneutralen Staat einsteht, ist zudem nicht automatisch atheistisch oder nichtgläubig. Und wo können wir in all dem eigentlich Humanist:innen einordnen?
Es ist also kompliziert. Dazu kommen verwandte bzw. stark überlappende Konzepte wie der Laizismus, also die strikte Trennung von Staat und Religion. Aber das wohl bekannteste Beispiel eines formal gesehen laizistischen Staates, die USA, erscheinen eher als lebendes Gegenbeispiel: US-Präsidenten scheuen sich keineswegs, die Worte „God bless America!“ in den Mund zu nehmen, außerdem sind viele der grundlegenden gesellschaftlichen Diskussionen zumindest von einigen Seiten hochgradig religiös aufgeladen.
Dass Fragen rund um (Nicht)Religiösität und den Einfluss von Religionen auf den Staat gerade in Deutschland keine randständigen Fragen sind, zeigen die Berechnungen der Forschungsgruppe Weltanschauung: Im Jahr 2020 waren die „Konfessionslosen“ mit über 40 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe in Deutschland gegenüber Angehörigen von Religionsgemeinschaften. Es wird damit gerechnet, dass sie noch 2022 die Mehrheit stellen könnten, unter anderem aufgrund der Austrittswellen als Folge von sexuellen Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche.
Säkularist*innen, Humanist*innen (und andere) in der SPD
Sicherlich auch wegen oben genannter Fakten war es überfällig, dass jüngst nach Vorläufern auf einigen Landesebenen in der SPD auf Bundesebene ein „Arbeitskreis Säkularität und Humanismus“ eingerichtet wurde (AKSH, bisher freies Netzwerk „Säkulare Sozis“). Zwar würde man angesichts der oben genannten Zahlen erwarten, dass in Deutschland, anders als in den USA, Nichtreligiösität kein großes Thema ist. Was für den privaten Rahmen in vielen Kreisen gelten mag, ist auf institutioneller Ebene allerdings nicht unbedingt so: Der Einrichtung des AKSH gingen, so wird berichtet, in der SPD etwa zehn Jahre an Debatten und Anläufen voraus. Noch ganz anders verhält es sich bei den Kirchen und ihren Institutionen, in denen das kirchliche Arbeitsrecht nach wie vor den Vorzug vor staatlichem Arbeitsrecht hat, was zu Diskriminierung von Geschiedenen, von Queeren und von anderen Menschen, die nicht kirchlichen Erwartungen entsprechen, führt.
Sicherlich rüttelt der AKSH an einigen „Gewissheiten“. Dort, wo es um Glauben geht, rührt die Arbeit nicht selten an sehr grundlegenden Fragen: etwa an der Frage der Selbstbestimmung des eigenen Lebensendes und der sexuellen Selbstbestimmung; an der Forderung, die Staatsleistungen an Kirchen einzustellen, wie schon seit der Weimarer Verfassung und auch im Grundgesetz vorgesehen; nicht zuletzt fordert der AKSH ein diskriminierungsfreies Arbeitsrecht auch für kirchliche Einrichtungen und die Abschaffung von Privilegien für religiöse Organisationen.
Das Verhältnis von Religion, AKSH und SPD
Die Diskussion über diese Themen ist aber nicht gleichzusetzen mit einer Ablehnung gegenüber religiösen Menschen: Der AKSH steht für Akzeptanz aller Religionen und spirituellen Weltanschauungen, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind, ohne eine davon zu bevorzugen. Mit dieser geweiteten Perspektive können übrigens neue Denkanstöße entstehen, über die der AKSH und religiöse Arbeitskreise ins Gespräch kommen können: In den von Taylor untersuchten „Dunkelgrünen Religionen“ etwa gibt es Ansätze, die die Verwandtschaft des Menschen mit allen anderen lebenden Organismen hervorheben. Dies ist ein Kontrast zu einer Anschauung, die den Menschen quasi als „Krone der Schöpfung“ zum Herrscher über die Natur erhebt, eine Haltung, die einem verantwortungsvollen ökologischen Denken nicht unbedingt förderlich erscheint.
Dass der AKSH nun eingerichtet wurde, ist ein gutes Zeichen dafür, dass zukünftig eine Debatte auf Augenhöhe zwischen Religionsgruppen und denjenigen, die sich als nichtreligiös identifizieren oder den Einfluss der Religion auf den Staat minimieren wollen, auch innerhalb der SPD stattfinden soll; die Grünen machen es seit einiger Zeit schon vor. Inwiefern dies in die Politik und die weitere Gesellschaft ausstrahlt, kann man zu diesem Zeitpunkt nicht abschätzen, begrüßenswert ist die Entwicklung in jedem Fall. Im Deutschen soll man überall so etwas sagen können wie: „Ich bin Säkularist“.