Wirtschaft

Wie Deutschland unter den Versäumnissen der CDU/CSU leidet

Oliver Jauernig22. September 2023
Warum Deutschland wirtschaftlich vor großen Herausforderungen steht, das Lamento vieler Medien und Politiker*innen vom „kranken Mann Europas“ jedoch brandgefährlich ist, schreibt Oliver Jauernig in seinem Blogbeitrag.

Deutschland – der kranke Mann Europas? Da geistert er wieder durch die Medien, der Begriff vom „kranken Mann“. Vorbei die Zeit als Deutschland die Lokomotive der europäischen Wirtschaft gewesen ist. Man scheint sich einig: „Alle schaffen Wachstum – Wir nicht“ titelte DER SPIEGEL. Die Mittelstands- und Werteunion der CDU postet: „Sogar Russland hängt uns ab“. Und der Schuldige steht auch schon fest. So schreibt Tichys Einblick „Bravo Ampel: Deutschland droht Dauer-Rezession“. In den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke ist man sich ebenso einig: Die Unfähigkeit der Ampel-Regierung und vor allem die ideologischen Grünen, welche eine gezielte Deindustrialisierung vorantreiben würden, machen unser Land kaputt.

Brandgefährliches Lamento

Dieses Lamento ist jedoch brandgefährlich. Auch wenn in vielen Bereichen die Digitalisierung schon weit fortgeschritten ist, gilt doch der alte Satz von Alfred Herrhausen: „50 Prozent der Wirtschaft sind Psychologie. Wirtschaft ist eine Veranstaltung von Menschen, nicht von Computern.“ Es stimmt, die Prognosen des IWF sehen Deutschland mit der roten Laterne. Wird für Spanien ein Wachstum von 2,5 Prozent für 2023 vorhergesagt, für die USA 1,8 Prozent, für Italien 1,1 Prozent und für Frankreich immerhin noch 0,8 Prozent – so wird für Deutschland ein Schrumpfen der Wirtschaft um 0,3 Prozent erwartet. Sind die Abgesänge also berechtigt?

Es kommt darauf an. Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung in der EU und den führenden Industrienationen seit 2009, so ist Deutschland im Verhältnis relativ unbeschadet durch die Krisen der vergangenen Jahre gekommen. Insbesondere das Jahr 2020 hat mit den Folgen der Corona-Pandemie andere Nationen deutlich härter getroffen. Zum Vergleich: Ist 2020 die deutsche Wirtschaftsleistung um 3,7 Prozent gesunken, waren es 7,9 Prozent in Italien, in Griechenland 9 Prozent und in Großbritannien und Spanien sogar mehr als 11 Prozent. Daher mag es wenig überraschen, dass die Erholungseffekte seit 2021 in Deutschland geringer ausfallen sind als in anderen Ländern. 

Mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte seit Jahresbeginn

Aktuell nimmt zwar die Zahl an Insolvenzen im Vergleich tendenziell zu. Dabei handelt es sich laut Expert*innen jedoch um eine Bereinigung bzw. Nachholeffekte, nachdem milliardenschwere Hilfen des Staates nach der Corona- und Energiekrise ausgelaufen sind. Ansonsten zeigt sich die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung weiter positiv. Im zweiten Quartal 2023 waren nach Angaben der Bundesagentur rund 45,9 Millionen Menschen erwerbstätig. Die Zahl ist damit seit Jahresbeginn um rund 180.000 Personen gestiegen. Auch das Arbeitsvolumen erhöhte sich um knapp ein Prozent auf 14,6 Milliarden Stunden.

In der Gesamtschau hat sich die Wirtschaftskraft in Deutschland seit 2009 positiver entwickelt als in Brasilien, Großbritannien, Argentinien, Österreich, Finnland, Frankreich, Japan, Spanien, Italien und Griechenland. Und man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die Preisschocks durch den russischen Überfall auf die Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise einem klaren Ost-West-Gefälle folgen. Je näher ein Land geografisch an der Ukraine und Russland liegt, desto größer war im Schnitt die Abhängigkeit von russischen Energieimporten und umso härter wurden Wirtschaft und Verbraucher von der Inflation getroffen. So lag die Inflationsrate 2022 in den baltischen Staaten zwischen 17,2 und 19,5 Prozent. In Deutschland bei inzwischen ungewohnt hohen 8,7 Prozent. Unter anderem in Spanien, Frankreich, Luxemburg, Portugal, Finnland und Irland sind die Belastungen geringer ausgefallen.

Dies alles lässt die Prognose des IWF in einem etwas differenzierteren Licht erscheinen. Also, alles übertrieben? Alles gut? Auch das ist nicht der Fall. Deutschland steht – ungeachtet der herrschenden multiplen Krisen – vor großen Herausforderungen. Vieles wurde in den vergangenen Jahren auch versäumt oder mit zu wenig Elan angegangen. Aber auch hier lohnt ein etwas genauerer Blick:

Stichwort Energiekosten

Energie ist auch deshalb so teuer, weil Deutschland die Energiewende weitestgehend verschlafen hat. Windparks im Norden werden abgeschaltet, weil dort überschüssige Energie entsteht. Gleichzeitig treibt der hohe Energiebedarf der Industrie im Süden die Preise zusätzlich hoch. Nicht einmal ein Fünftel der benötigten neuen Stromnetze ist bis dato gebaut. Südlink hat sich um Jahre verzögert. CDU-Mann Peter Altmaier hat als Bundesumweltminister die Förderung für Photovoltaikanlagen gekürzt. Durch die 10h-Regelung sind in Bayern zudem kaum Windräder gebaut worden. Lieber haben CSU und Freie Wähler von „Monstertrassen“ und einer „Verspargelung“ der Landschaft schwadroniert. Mit ihrem Zögern sind sie mitverantwortlich, dass Bürger*innen wie Wirtschaft für Energie tiefer in den Geldbeutel greifen müssen.

Stichwort Fachkräftemangel

Deutschland leidet unter dem demografischen Wandel. Das ist seit Jahren bekannt – ebenso der weitere Trend. Es verlassen mehr Menschen den Arbeitsmarkt als junge Kräfte nachkommen. Allein in den nächsten zehn Jahren werden dadurch etwa fünf Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt fehlen. Egal, ob in den High-Tech-Branchen, im Handel oder in der Pflege. Die Industrie rechnet allein dadurch mit einem Wertschöpfungsverlust von etwa 100 Milliarden Euro. Wichtig wäre es hier, Zuwanderung neu zur regeln und die Integration der Menschen in den Arbeitsmarkt zu organisieren. Oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Aber auch hier blockieren Union und AfD, vermischen bewusst Zuwanderung und Migration, schüren Ängste bei der Bevölkerung. Die Lösungen der Union lauten länger arbeiten, höhere Wochenarbeitszeit, keine Dokumentation der Arbeitszeit. Die AfD fordert gar eine abschlagsfreie Rente erst nach 45 Arbeitsjahren – unabhängig vom Alter der Beschäftigten.

Stichwort Digitalisierung

Im Jahr 2017 legte die Regierung unter Kanzlerin Merkel fest, dass binnen einer Frist von fünf Jahren knapp 600 Dienstleistungen des Staates für Bürger*innen und Wirtschaft digital zu erledigen sein sollen. Am Ende sollte zumindest ein Teil davon beschleunigt umgesetzt werden. Das Vorhaben ist nahezu ergebnislos verpufft. Direkt im Kanzleramt angesiedelt und zuständig: die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, CSU-Frau Dorothee Bär. Außer ihrem Flugtaxi-Vorstoß ist wenig von ihrem Tun in Erinnerung geblieben. Während dessen haben andere Länder ihre Hausaufgaben gemacht und uns im Bereich der Digitalisierung abgehängt.

Stichwort Verkehrsinfrastruktur

Einer Umfrage im Sommer 2022 zufolge sieht mehr als jedes vierte Unternehmen (27 Prozent) seine Geschäftsabläufe durch Mängel an der Infrastruktur deutlich beeinträchtigt. Im Herbst 2013 waren dies zum Vergleich nur 11 Prozent. Die Hälfte der 25 höchsten Brücken im Land befinden sich in einem kritischen Zustand, Einschränkungen und Sperrungen sind die Regel. Bei der Bahn sieht es nicht besser aus. Auch hier herrscht ein Investitionsstau in Milliardenhöhe. Verantwortlich hier: wieder die CSU. Seit 2009 bis zur Bundestagswahl im Herbst 2021 hatten CSU-Männer das Ministerium geführt: Peter Ramsauer – Alexander Dobrindt – Christian Schmidt – Andreas Scheuer. Unter Ramsauer sollte schon die „Ausländermaut“ eingeführt werden und er scheiterte zuerst an Stuttgart 21 und dem BER. Dobrindt fiel vor allem dadurch auf, dass er überproportional viele Projekte in seinem Stimmkreis finanzierte, was auch der Rechnungshof rügte. Schmidt war nur kommissarischer Minister und bleibt in Erinnerung, dass er im Alleingang einer Verlängerung der Zulassung für Glyphosat zustimmte. Scheuer schließlich ist verantwortlich für das Maut-Debakel, welches die deutschen Steuerzahler*innen mehrere Hundert Millionen Euro gekostet hat.

Stichwort Verteidigung

Mit dem Krieg in der Ukraine hat die Verteidigungspolitik einen neuen Stellenwert erhalten. Die Beseitigung bestehender Mängel und die Beschaffung von Material benötigen jedoch Zeit. Auch hier hat die Union, welche von 2005 bis 2021 mit Jung, zu Guttenberg, de Maizière, von der Leyen und Kramp-Karrenbauer die Minister*innen gestellt hat, eine deutliche Verantwortung. Vor allem die ad-hoc-Aussetzung (faktisch: Abschaffung) der Wehrpflicht unter zu Guttenberg haben der Bundeswehr und ihrem Ansehen und der Verankerung in der Gesellschaft massiv geschadet. 

Egal, in welchen Bereich man schaut – in allen zentralen Bereichen hatten unter der Richtlinienkompetenz Merkels Minister die Fäden in der Hand, deren Parteien gegen die Ampel-Regierung polemisieren, hetzen und Ängste und Sorgen bei den Bürger*innen zusätzlich und vorsätzlich schüren. Neben der, zugegeben verbesserungswürdigen Außenkommunikation der Regierung, haben Union, Freie Wähler und AfD damit erreicht, dass die Regierung aktuell so unbeliebt ist, wie kaum eine zuvor. Und das, obwohl die Bertelsmann-Stiftung der Regierung ein gutes Zwischenzeugnis ausgestellt hat. Zur Mitte der Legislatur hat die Regierung bereits überdurchschnittlich viele Projekte aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt – und das trotz aller herrschenden Krisen. 

Die Opposition hat aber vor allem erreicht, dass drei Viertel der Bevölkerung, so der Deutschlandtrend Ende August, die wirtschaftliche Lage im Land als „weniger gut“ oder „schlecht“ einstufen. Und knapp die Hälfte (46 Prozent) gehen von einer weiteren Verschlechterung aus. „Fünfzig Prozent der Wirtschaft sind Psychologie.“ – Aus politisch-taktischen Spielchen vor zwei wichtigen Landtagswahlen und unterstützt von den Populist*innen des rechten Randes reden Söder, Merz und Co. Deutschland bewusst in die Krise, am Ende gar in eine Rezession.

Deutschland steht vor Herausforderungen. Mit Schlechtreden und dem Schüren von Ängsten werden diese jedoch größer statt kleiner. Ist Deutschland also der „kranke Mann Europas“? Nur, wenn wir ihn dazu machen.

Zuerst erschienen im Blog des Autors.

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