Vor 50 Jahren

Wie Willy Brandt als erster Bundeskanzler Israel besuchte

Kristina Meyer07. Juni 2023
Ankunft in Tel Aviv: Premierministerin Golda Meir begrüß Bundeskanzler Willy Brandt in Israel
Ankunft in Tel Aviv: Premierministerin Golda Meir begrüß Bundeskanzler Willy Brandt in Israel
Mit Willy Brandt besucht am 7. Juni 1973 zum ersten Mal ein amtierender deutscher Bundeskanzler den Staat Israel. Zur Einladung kam es erst nach langem Zögern und auch der Besuch selbst verlief nicht ganz reibungslos.

Als am Nachmittag des 7. Juni 1973 eine Regierungsmaschine aus Köln/Bonn auf dem Flughafen Lod nahe Tel Aviv landet, ist der israelische Rundfunk live dabei. Zum ersten Mal besucht ein amtierender deutscher Bundeskanzler den Staat Israel. Dass die Militärkapelle die deutsche Nationalhymne spielt, als Willy Brandt das Flugzeug verlässt, können die Israelis im Radio und Fernsehen nicht hören: Aus Rücksicht auf die Überlebenden der Shoah schalten die Sender kurz den Ton ab. Premierministerin Golda Meir begrüßt Brandt mit den Worten: „Herr Bundeskanzler, Sie werden in Israel mit der Wertschätzung empfangen, die jemandem gebührt, der in der dunkelsten Zeit für die Menschheit und insbesondere für das jüdische Volk an der Seite derer gestanden hat, die gegen die Nazis kämpften.“

Befürchtungen in Israel

Aller Wertschätzung zum Trotz hatte die Wahl eines ehemaligen Widerstandskämpfers zum deutschen Bundeskanzler bei vielen Israelis Besorgnis ausgelöst. Ein unbelasteter Nazigegner im Kanzleramt würde, so die Befürchtung, gegenüber dem jüdischen Staat mit mehr Selbstbewusstsein und weniger Schuldbewusstsein, mit weniger moralisch begründetem Entgegenkommen und mehr realpolitischem Pragmatismus auftreten als die CDU-Kanzler vor ihm. Und auch Brandts Neue Ostpolitik sah man in Israel mit Skepsis, stand der Entspannungskurs gegenüber der Sowjetunion doch in einem komplizierten Wechselverhältnis mit Bonns Bemühungen um bessere Beziehungen zu den arabischen Staaten – und die strebten seit den spektakulären israelischen Gebietsgewinnen im Sechstagekrieg von 1967 nach einer Revanche.

Die Anfangsjahre der sozial-liberalen Koalition bestärkten die Israelis in ihrer Sorge: Anders als seine Vorgänger ging Brandt in seiner ersten Regierungserklärung nicht auf Israel ein, sondern erklärte lediglich, dass man gute Beziehungen zu allen Ländern des Nahen Ostens wünsche. Kanzleramtschef Egon Bahr machte den israelischen Botschafter äußerst selbstbewusst – und historisch auch nicht ganz korrekt – darauf aufmerksam, dass „hier niemand mehr sitzt, der mit der Vergangenheit erpreßbar ist“, und daher hoffe er auf eine „Normalisierung“ der bilateralen Beziehungen. Auch Brandt sprach Anfang 1970 von der Notwendigkeit einer „Politik ohne Komplexe oder Erpressungen“ im Verhältnis zu Israel. Statt von einer „Normalisierung“ wollte er aber lieber von einer „Versachlichung“ der Beziehungen reden. Zur Beschwichtigung der Israelis trugen all diese Begrifflichkeiten nicht bei, zumal es 1970 zu einer Welle von Terroranschlägen gegen jüdische und israelische Ziele in München kam.

Einladung nach langem Zögern

Derweil bemühte sich die SPD-Führung inständig darum, die seit den sechziger Jahren gut etablierten Kontakte zur israelischen Schwesterpartei Mapai zu pflegen und auch auf diesem Weg die diplomatischen Wogen zu glätten. Im Frühjahr 1971 reiste eine große Parteidelegation nach Israel, angeführt von Herbert Wehner, der dort als sehr vertrauenswürdiger Partner galt. 1947 hatte sich Golda Meir noch geweigert, Kurt Schumacher bei einem Kongress der Sozialistischen Internationale die Hand zu reichen; nun empfing sie Wehner sogar in ihrem Privathaus – und sie entschloss sich nach langem Zögern, Willy Brandt zu einem Staatsbesuch nach Israel einzuladen. Eigentlich hätte Brandts Reise nach der vorgezogenen Bundestagswahl im Spätherbst 1972 stattfinden sollen, aber nach dem Olympia-Attentat Anfang September und der erfolgreichen Freipressung der überlebenden palästinensischen Terroristen Ende Oktober war die Stimmung zwischen Bonn und Jerusalem derart desolat, dass der Besuch verschoben wurde. Erst im April 1973 konnte ein neuer Termin bekannt gegeben werden.

Vom 7. bis 11. Juni 1973 hielt sich Willy Brandt in Israel auf, begleitet von einer Delegation, zu der unter anderen auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Werner Nachmann, Brandts Redenschreiber Klaus Harpprecht und dessen Frau Renate, eine Auschwitz-Überlebende, sowie der Schriftsteller Günter Grass gehörten. Letzterer war anderthalb Jahre zuvor bei einer Lesung während der ersten „Deutschen Kulturwoche“ in Israel auf heftigen Protest gestoßen – nicht zum ersten Mal, denn schon 1967 war er dort verbal mit Studierenden aneinandergeraten, die er aufgefordert hatte, ihre „Emotionen“ doch besser durch „Rationalität“ zu ersetzen und die Shoah vielleicht einmal in den Kontext anderer Massenverbrechen zu setzen. Für eine geeignete Begleitung hielt der Kanzler ihn aber offenbar dennoch. Brandts erste Station war die nationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

Einen zweiten Kniefall, das war allen Beteiligten klar, konnte es bei der Zeremonie dort nicht geben. Stattdessen trug Brandt vor der Gedenkflamme ein Zitat aus dem 103. Psalm vor, das vom Erbarmen Gottes mit Sündern handelt. Vermutlich wollte er damit ein zugleich demütiges und hoffnungsfrohes Zeichen setzen, aber eine Wirkung wie sein ikonischer Kniefall in Warschau entfaltete diese Rezitation bei Weitem nicht.

24 Stunden im Kibbuz

Brandt unternahm während seines Aufenthalts einen Rundgang durch die Altstadt von Jerusalem, wurde von Bürgermeister Teddy Kollek empfangen, entging über der Festung von Massada nur knapp einem Unglück, als sein Helikopter von einem Windstoß erfasst wurde, und bekam die Ehrendoktorwürde des Weizmann-Instituts verliehen. Daneben gab es mehrere Bankette und Empfänge, darunter einer in Herzliya, zu dem zahlreiche aus Deutschland stammende israelische Persönlichkeiten geladen waren. Auf Einladung von Vizepremierminister Yigal Allon hielt sich Brandt vom 8. auf den 9. Juni im Kibbuz Ginossar am See Genezareth auf – eine der Pionierstätten der sozialistischen Zionismusbewegung. Hier traf er auf Menschen, mit denen er nicht nur politische Überzeugungen teilte, sondern in vielen Fällen auch die Sprache oder die Flucht- und Exilerfahrung.

Er nahm am Schabbat-Dinner teil, verbrachte die Nacht im Gästehaus und fuhr mit Allon am nächsten Morgen raus auf den See zum Angeln. Fotoaufnahmen dieser 24 Stunden im Kibbuz zeugen von einer gelösten und sehr freundschaftlichen Atmosphäre. Auch Bilder eines Treffens mit den Spitzen der Arbeitspartei in Beit Berl zeigen einen fröhlichen Brandt, umringt von ebenso gut gelaunten Gastgebern. Wenn man bei einem solchen Staatsbesuch überhaupt von „Wohlfühlmomenten“ sprechen kann, dann erlebte Brandt sie wohl am ehesten bei diesen fast privat anmutenden Begegnungen.

Spannungen mit Ägypten

Wohlgefühl kam bei den politischen Gesprächen mit Golda Meir und ihrem Kabinett ganz sicher nicht auf. Neben einigen sehr handfesten wirtschaftspolitischen Themen und der Debatte um Brandts Kompromissformel von den „normalen Beziehungen mit besonderem Charakter“ ging es vor allem um die akute Bedrohungslage des jüdischen Staates: Seit etwa einem Jahr verdichteten sich die Anzeichen für einen möglichen Vergeltungsangriff der arabischen Nachbarn. Golda Meir, die eigentlich nicht daran glaubte, dass Ägyptens Präsident Sadat einen solchen Schritt ohne die vergeblich von Moskau erbetenen Waffen- und Flugzeuglieferungen wagen würde, hoffte auf direkte Verhandlungen mit Kairo.

Zu Gesprächen unter internationaler Vermittlung sei Ägypten bereit, erklärte Brandt – wenn Israel nur etwas mehr Entgegenkommen zeigen, sprich: vor den Verhandlungen mindestens einen Teilrückzug aus dem Sinai anbieten würde. Meir aber akzeptierte weder Vorbedingungen noch Verhandlungen unter Vermittlung Dritter – ob der UNO, der beiden Großmächte, der EG oder eines einzelnen Staates. Eine Vermittlerrolle der Bundesrepublik lehnte Brandt aus historischen Gründen ohnehin ab, er versprach Golda Meir aber, Sadat die Botschaft zu übermitteln, dass Israel zu direkten, geheimen und bedingungslosen Verhandlungen bereit sei.

Brandt war irritiert und überfordert

Eines dieser hart geführten Gespräche endete in beklommenem Schweigen: Golda Meirs lakonischer Schlusssatz, Israel habe immer recht, auch wenn das vielleicht vermessen klinge, verschlug Brandt die Sprache – eine Szene, die sein mitgereister Redenschreiber Klaus Harpprecht als sehr unangenehm empfand. Gegenüber der Journalistin Wibke Bruhns klagte Brandt über den Hochmut, mit dem Meir die Positionen ihres Landes vortrage. Seit seiner ersten Israelreise 1960 war er Golda Meir mehrfach in Parteikontexten begegnet, und wechselseitige Sympathie war zweifellos vorhanden, aber von ihrer Unnachgiebigkeit und Vehemenz in politischen Fragen war Brandt irritiert und überfordert. Mag sein, dass er sich in den Gesprächen mit ihr unterlegen, in seiner Biographie vielleicht nicht genügend wertgeschätzt fühlte – aber zugleich fühlte auch Meir sich und ihr Land nicht genügend ernst genommen: Die Deutschen müssten begreifen, dass die israelische Politik bis ins Mark vom Trauma der Shoah, von der Angst vor Vernichtung geprägt sei, erklärte sie in einer ihrer Tischreden, und die Gefahr einer solchen Vernichtung sei nun einmal wieder sehr konkret.

Was man auch nicht vergessen darf: Anfang der siebziger Jahre war eine Frau auf dem internationalen Parkett immer noch eine absolute Ausnahme, und selbst wenn Brandt in Sachen Gleichberechtigung dem Zeitgeist der meisten seiner Altersgenossen schon ein Stückchen voraus gewesen sein mag – mit einer derart resoluten Frau über solch heikle Fragen verhandeln zu müssen wird auch für ihn eher Neuland gewesen sein. Auf dem Weg zum Flughafen vereinbarten Meir und Brandt, fortan nur noch direkt miteinander zu kommunizieren und nicht über das Auswärtige Amt, dessen Diplomaten – allen voran FDP-Außenminister Walter Scheel – sich stets sehr um das Verhältnis zu den arabischen Staaten sorgten und im Umgang mit Israel nicht gerade Feingefühl bewiesen.

Zu einem Gegenbesuch kam es nicht mehr

Vor Brandts Abflug sprach Meir dann sogar von Freundschaft – und sie stimmte einem Gegenbesuch in Bonn zu, obwohl sie für die Aussage bekannt war, niemals deutschen Boden betreten zu wollen. Dazu kam es dann allerdings nicht mehr, denn im April 1974 kündigte Golda Meir ihren Rücktritt an, wenige Wochen vor Willy Brandt. Ihr ebenso zögerliches wie unbeirrbares Agieren im Vorfeld des Yom-Kippur-Kriegs, der vier Monate nach Brandts Staatsbesuch mit einem Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens begann, fast 2700 Israelis den Tod brachte und eine bittere, bis heute nachwirkende Zäsur in der Geschichte des Landes markiert, hatte Golda Meir heftige Kritik eingebracht und ihren Nimbus als „Großmutter“ Israels beschädigt. Ihr Nachfolger Jitzchak Rabin war es, der als erster amtierender Ministerpräsident Israels 1975 zu einem Staatsbesuch nach Bonn reiste.

Vor dem Bundestag erklärte Willy Brandt nach der Rückkehr aus Israel 1973, diese Reise habe „zu den entscheidenden Erfahrungen meines politischen Lebens“ gezählt. Nach seiner Kanzlerschaft besuchte er das Land noch zwei Mal: 1977 nahm er am Parteitag der Arbeitspartei statt, 1985 traf er Premierminister Schimon Peres zu politischen Gesprächen. Auf die Frage, welche persönliche Verbindung Brandt zu Israel hatte, wie groß sein „commitment“ zum jüdischen Staat war, fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Gerne zitiert wird Peres, der Willy Brandt in seinen Erinnerungen eine „tiefe“, „fast religiöse Beziehung zum jüdischen Volk und zum Staat Israel“ attestierte. Anderswo ist zu lesen, Brandt habe sich nie besonders für den Staat Israel und jüdische Belange interessiert, was sich auch in seiner Politik niedergeschlagen habe. Überzeugend erscheint keines dieser beiden gegensätzlichen Urteile, aber bekanntermaßen sind schon viele an dem Versuch gescheitert, Brandts Persönlichkeit und sein Denken letztgültig zu ergründen.

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