Vor 50 Jahren

Wie der „Vorwärts“ über den Kniefall von Warschau berichtete

Kai Doering05. Dezember 2020
Ganz mit sich allein auf dem weiträumigen Viereck mitten in Warschau verharrt er minutenlang regungslos an diesem Ort des Entsetzens. So erlebte Vorwärts-Autor Gert Baumgarten Willy Brandts Kniefall in Warschau.
Ganz mit sich allein auf dem weiträumigen Viereck mitten in Warschau verharrt er minutenlang regungslos an diesem Ort des Entsetzens. So erlebte Vorwärts-Autor Gert Baumgarten Willy Brandts Kniefall in Warschau.
Willy Brandts Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970 war das Thema in den deutschen Medien. Natürlich berichtete auch der „Vorwärts“ groß – und zeigte sich prophetisch.

Das zur Ikone gewordene Bild findet sich erst auf Seite 3. Viertelseitig, den Blick leicht nach unten gerichtet, kniet dort in der Vorwärts-Ausgabe vom 10. Dezember 1970 Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos. Das Ereignis selbst hatte bereits drei Tage zuvor stattgefunden. Der „Vorwärts“ erschien damals als „sozialdemokratische Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur“, zu kaufen für 80 Pfennig die Ausgabe.

Die Vertragsunterzeichnung wird fast zur Nebensache

Der Reportage über den Besuch Brandts in Warschau widmet die Redaktion eine ganze Seite. Autor ist Gert Baumgarten, der zu dieser Zeit als Korrespondent für verschiedene Zeitungen aus Warschau berichtet. „Langsam, Schritt für Schritt mit Bedacht setzend, geht Willy Brandt auf das riesige Relief zu, das die Leiden der Warschauer Ghetto-Bewohner in Stein gebrannt hat“, beschreibt Baumgarten die Ereignisse am Vormittag des 7. Dezember 1970.

Am Tag zuvor ist der deutsche Bundeskanzler in Warschau gelandet. Nach einer Kranzniederlegung am Ehrenmal wollen er und Außenminister Walter Scheel den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“, kurz: Warschauer Vertrag, unterzeichnen. Doch das gerät an diesem Tag fast zur Nebensache.

Überall spürt man: Etwas Neues entsteht

„Dicht vor dem Steinmonument lässt Willy Brandt sich auf die Knie sinken. Ganz mit sich allein auf dem weiträumigen Viereck mitten in Warschau verharrt er minutenlang regungslos an diesem Ort des Entsetzens“, beschreibt Gert Baumgarten die Szenen, die sich für alle überraschend abspielen. Er prophezeit: „Diese Minute, der Anblick des vor den Opfern der Barbarei und der Unmenschlichkeit knienden deutschen Kanzlers wird schwer wiegen in den künftigen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen.“

Er sollte recht behalten. Zwar sorgt die Zensur dafür, dass die Bilder des knienden Kanzlers weder im polnischen Fernsehen, noch in den Zeitungen zu sehen sind, doch das Ereignis macht auch so seine Runde. Wie angetan die Pol*innen vom Besuch Brandts, des ersten Bundeskanzlers auf polnischem Boden, sind, beschreibt Baumgarten ebenfalls. „Überall in Polens Hauptstadt spürt man bei Menschen verschiedenster Schichten übereinstimmend heraus: Etwas Neues entsteht, Erfreuliches geschieht.“

Ein Drahtseilakt für die polnische Staatsführung

Und auch zwischen Brandt und dem Vorsitzenden der polnischen Arbeiterpartei Władysław Gomułka scheint der Funke überzuspringen. „Nicht weniger als fünfmal“ treffen sich die beiden in den 48 Stunden, die Brandt in Warschau weilt, berichtet Gert Baumgarten erstaunt. Dabei sei der Besuch des Kanzlers für die polnische Staats- und Parteiführung ein Drahtseilakt: „Während auf der einen Seite Willy Brandt und seine Begleiter mit allen nur erdenklichen persönlichen Ehren bedacht werden sollen, ist auf der anderen Seite beabsichtigt, den für die polnische Öffentlichkeit sichtbaren Aufwand in Grenzen zu halten.“ Der „Eindruck einer jähen gemeinsamen deutsch-polnischen Euphorie“ solle vermieden werden.

Und doch sind die Signale, die der Besuch Brandts in Warschau auslöst, deutlich – und nachhaltig. Zwar wird der Bundestag den Warschauer Vertrag wegen des Widerstands von CDU und CSU gegen das Festschreiben der Oder-Neiße-Linie erst eineinhalb Jahre später ratifizieren, doch die deutsch-polnischen Beziehungen nehmen unaufhaltsam an Fahrt auf.

Vielen ist eine Art stiller Fröhlichkeit anzumerken

Gert Baumgarten scheint das bereits im Dezember 1970 zu ahnen. „Der Anfang, der jetzt gemacht ist, stimmt hoffnungsfroh“, schreibt er im „Vorwärts“. Das gelte für die Politiker ebenso wie für die Menschen in Warschau. „Vielen ist eine Art stiller Fröhlichkeit anzumerken, wenn man sie auf den Vertrag zwischen Bonn und Warschau und auf den Besuch Willy Brandts in Polen anspricht.“

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