Lars Kraume und Helge Lindh

„Der vermessene Mensch“: Ein verdrängter Teil der deutschen Geschichte

Kai Doering16. Februar 2023
Regisseur Lars Kraume (l.) und SPD-Kulturpolitiker Helge Lindh in dessen Bundestagsbüro: Sich der deutschen Kolonialvergangenheit zu stellen, ist keine Selbstaufgabe, sondern eher Selbstfindung.
Regisseur Lars Kraume (l.) und SPD-Kulturpolitiker Helge Lindh in dessen Bundestagsbüro: Sich der deutschen Kolonialvergangenheit zu stellen, ist keine Selbstaufgabe, sondern eher Selbstfindung.
Auf der „Berlinale“ feiert der neue Spielfilm von Lars Kraume „Der vermessene Mensch“ Welt-Premiere. Vorab hat sich der Regisseur mit SPD-Kulturpolitiker Helge Lindh getroffen. Sie sprachen über das koloniale Erbe und die Verantwortung Deutschlands.

Herr Kraume, Sie haben sich schon früher mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt. Warum nun ein Film über den deutschen Kolonialismus? 

Lars Kraume: Die deutsche Kolonialgeschichte ist im Kino bisher stark unterbelichtet. Es gibt auch kaum Romane, die sich mit dem Thema befassen. Das spiegelt aber leider auch den Wissensstand über den deutschen Kolonialismus in der Gesellschaft sehr gut wider. Dadurch, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg alle Kolonien abgegeben hat, gibt es ein weit verbreitetes Gefühl, wir hätten hier eine weiße Weste, was aber gar nicht stimmt.

Wie haben Sie sich dem Thema genähert? 

Lars Kraume
Lars Kraume

Kraume: Zu Anfang habe ich mich mit dem Roman „Morenga“ von Uwe Timm beschäftigt. Der Aufstand der Herero und Nama im heutigen Namibia wird dort aus Sicht eines deutschen Soldaten erzählt. Ich wollte aber keinen Kriegsfilm machen. Deshalb habe ich nach einem anderen Ansatz gesucht. Über dem Projekt schwebte von Anfang an die Debatte über die Restitution geraubter Kulturgüter und der „Human Remains“ also der Gebeine Getöteter aus der Kolonialzeit. So bin ich bei einem Ethnologen als Hauptfigur gelandet.

Warum haben Sie seine Perspektive gewählt und nicht etwa die Sicht der Herero? 

Kraume: Als Deutsche können wir die Geschichte nur aus unserer Perspektive erzählen. Gleichzeitig wollte ich den Zuschauern jemanden an die Hand geben, mit dem sie sich zumindest teilweise identifizieren können. Ich habe mich deshalb für eine Figur entschieden, die moralisch nicht gefestigt und streckenweise einfach naiv ist und im Laufe des Films zu einem totalen Konformisten wird.

Helge Lindh: An der Figur des Ethnologen Alexander Hoffmann wird deutlich, dass die Versuche, in Bezug auf den deutschen Kolonialismus einen Zustand der Unschuld herzustellen, scheitern müssen. Der Film offenbart, dass Kolonialisten nicht die mordenden Berserker sein müssen wie der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen Lothar von Trotha, sondern auch im Gewand der Wissenschaft daherkommen können. Die Wissenschaft wird zum Komplizen der Kolonialtruppen. In diesem Zusammenhang gefällt mir die Doppeldeutigkeit des Filmtitels „Der vermessene Mensch“ übrigens sehr.

Die deutsche Kolonialzeit dauerte nur gut 30 Jahre. Welche Spuren hat sie in unserem kollektiven Gedächtnis hinterlassen? 

Kraume: Bei weitem nicht so tiefe wie in den Kolonien selbst. In Namibia zum Beispiel ist die deutsche Kolonialzeit noch heute sehr prägend, auch wenn sie nicht sehr lange gedauert hat. In Deutschland ist die Tatsache, wie die Geschichte Namibias mit unserer eigenen zusammenhängt, nur den wenigsten bewusst. Das macht die Diskussion über die Restitution von Kulturgütern auch so schwierig. Da gibt es eine regelrechte Leerstelle.

Lindh: In Deutschland wurde die Zeit des Kolonialismus lange ausgeblendet. Ein kritischer Blick auf diese Zeit musste erst mühsam erkämpft werden. Auch wirkt die Legende bis heute nach, Deutschland habe nichts mit dem Kolonialismus zu tun gehabt. Bei Kolonien denken hierzulande viele an Großbritannien, Frankreich und vielleicht Spanien, nicht aber an Deutschland. Wenn man sich dann doch erinnert, beobachte ich häufig eine Verklärung. Da wird dann erzählt, die Deutschen hätten sich ja anständig verhalten, während Belgier und Franzosen in ihren Kolonien gewütet hätten. Dabei war gerade der Völkermord an den Herero und Nama eine der grausamsten Taten der Kolonialzeit.

Kraume: Hinzu kommt, dass Deutschland nicht die großen Befreiungskriege geführt hat wie Portugal in Angola oder Frankreich in Algerien, da es all seine Kolonien 1919 abgeben musste. Das hat die eigene Kolonialgeschichte weiter in den Hintergrund gedrängt.

Der Bundestag hat gerade die Verbrechen des „Islamischen Staates“ an den Jesiden als Völkermord anerkannt. Wäre es nicht auch an der Zeit, die deutschen Taten im heutigen Namibia als Völkermord anzuerkennen? 

Helge Lindh
Helge Lindh

Lindh: Ja, das ist dringend notwendig. Dieser Fall ist da schreiend eindeutig. Der Namibia-Sonderbeauftragte der vorigen Bundesregierung, Ruprecht Polenz, hat ja in dieser Richtung schon einiges auf den Weg zu bringen versucht. Auch die Einigung, dass Deutschland für Entwicklungs- und Versöhnungsprojekte in den kommenden Jahren 1,1 Milliarden Euro zahlt, hat er im Zusammenspiel mit der Bundesregierung ausgehandelt. Reparation oder Entschädigung ist das aber nicht. Ein Problem ist zudem, dass sich viele Volksgruppen dabei nicht einbezogen fühlen, weil sie sagen, die namibische Regierung repräsentiere sie nicht. Das birgt die große Gefahr, dass sich Deutschland mit dem Verweis auf die Uneinigkeit im Land aus der Affäre zieht. Weitere Schritte müssen folgen.

Kraume: Wobei ja die Zusammensetzung der heutigen Bevölkerung direkt auf koloniales Wirken Deutschlands zurückgeht.

Lindh: Genau! Schon damals wurden von Deutschland Volksgruppen gegeneinander ausgespielt. Ein Handeln, das sich heute in abgewandelter Form wiederholt, wenn etwa behauptet wird, Deutschland könne geraubte Güter nicht zurückgeben, weil die Herkunftsländer nicht den deutschen demokratischen Prinzipien entsprechen würden und sie ja gar nicht die Infrastruktur hätten, die Artefakte adäquat zu verwahren. So werden koloniale Muster weiter genutzt und reproduziert, um den geschädigten Ländern abzusprechen, dass sie Anspruch auf Entschädigungen und die Rückgabe ihrer Kulturgüter haben. Das ist ein Kolonialismus 2.0.

Der Film zeigt sehr gut, unter welchen Bedingungen Kunstschätze im heutigen Namibia eingesammelt und geraubt wurden. Was macht die Restitution so schwierig? 

Kraume: Was „Human Remains“, also Schädel und Knochen, angeht, herrscht bei der Rückgabe ein ziemliches Chaos in Deutschland. Es gibt unzählige Sammlungen, die zum Teil schlecht beschriftet und katalogisiert sind, was die Ermittlung des Ursprungs sehr schwer macht. Da könnte deutlich mehr getan werden, wenn der nötige Wille da wäre.

Zum Schluss: Was möchten Sie mit Ihrem Film erreichen?

Kraume: Ich würde mich sehr freuen, wenn der Film ein stärkeres Bewusstsein für diesen lange verdrängten Teil der deutschen Geschichte schafft. Für die Generation meiner Kinder ist es sehr wichtig, dass sie sich in Zukunft mit den Menschen in Afrika auf Augenhöhe begegnen können. Dafür muss man aber über die gemeinsame Geschichte Bescheid wissen und auch darüber sprechen.

Lindh: Sich der deutschen Kolonialvergangenheit zu stellen, ist keine Selbstaufgabe, sondern eher Selbstfindung. Es geht nicht darum, Dinge zu tilgen, sondern sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn wir das tun, merken wir auch, wie wir selbst und die Welt, in der wir heute leben, von Vergangenem geprägt sind. Ein Teil unserer Zivilisation war Barbarei. Das ist eine wichtige Erkenntnis und „Der vermessene Mensch“ hilft, das zu verstehen. Wir sollten keine Angst haben, uns dem zu stellen. Die Auseinandersetzung fesselt nicht, sie befreit.

Die Gesprächspartner

Lars Kraume und Helge Lindh

Lars Kraume hat sich als Regisseur schon häufiger mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt. 2015 erschien sein Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“, 2018 „Das schweigende Klassenzimmer“.

Helge Lindh ist medien- und kulturpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er beschäftigt sich seit längerem mit Fragen der Restitution.

Der Spielfilm feiert im Februar auf der „Berlinale“ Premiere. In die Kinos kommt er am 23. März.

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Kommentare

Es gab und gibt keine Kollektivschuld

und damit auch keine Verantwortung heutiger Bürger für die Vergangenheit.

Das müssten gerade auch Sozialdemokraten wissen. Denn es gab und gibt immer nur Herrschaft der herrschenden Klasse. Die einstigen Kolonisatoren aber sind längst verstorben.

Will man sich also mit der Geschichte Deutschlands befassen, muss man das mit der dazu nötigen wissenschaftlichen Distanz tun.

Da haben also Fragen nach einer unausgesprochen unterstellten Kollektivschuld nichts zu suchen.

Der "deutsche" Kolonialismus ist Geschichte.

das hört sich an nach "Schlussstrich", und das sollte

angesichts der Probleme , die gegenwärtig bestehen, nicht unser Ziel sein. Wo kämen wir hin, wenn wir uns nur noch mit den Dingen befassen würden, die heute relevant sind. Wir brauchen die Vergangenheit ebenso wie die vielen Nebenkriegsschauplätze (zB m,w,d) , damit die kolossalen Probleme keine Dominanz erlangen, und wir tatsächlich Gefahr laufen, Lösung einfordern zu müssen oder mit Lösungsforderungen konfrontiert zu werden.

Daran gemessen ist es allemal wichtig, auch solche Themen immer wieder in die Schlagzeile zu bringen. Ist der Platz dort besetzt, kann er nicht von anderen Themen eingenommen werden