Macht des Kinos

Regisseurin Milena Aboyan: Was „Elaha“ so besonders macht

Kai Doering26. November 2023
Regisseurin Milena Aboyan: Wir wollten keine Täter- und Opfer-Rollen schaffen.
Regisseurin Milena Aboyan: Wir wollten keine Täter- und Opfer-Rollen schaffen.
„Elaha“ ist das Regiedebüt von Milena Aboyan – und lief gleich bei der „Berlinale“. Im Interview sagt die Regisseurin, wie sie beim Dreh die Klischee-Falle umschifft hat und warum Kino-Filme helfen können, Vorurteile abzubauen.

Ihr Film „Elaha“ ist nach seiner Hauptfigur benannt. Was ist Elaha für ein Mensch?

Elaha ist eine Frau, die nicht wegrennt, wenn sie Probleme hat. Sie ist kraftvoll und sagt, was sie denkt. Elaha liebt ihre Familie und fühlt sich innerhalb ihrer Community geborgen. Gleichzeitig findet sie einige Regeln innerhalb dieser Community schlecht und veraltet. Sie läuft aber nicht davon, sondern beginnt, gegen diese Regeln zu kämpfen und sie zu verändern. Dabei hat sie niemanden, mit dem sie über ihre Probleme und Sorgen sprechen kann. Diese Mischung macht Elaha aus meiner Sicht sehr besonders.

Der Film zeigt das Dilemma, in dem Elaha steckt sehr anschaulich – auf der einen Seite die Liebe zu ihrer Familie, auf der anderen Seite ihr Drang nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben. Ist das eine Situation, die viele Frauen erleben?

Wie viele Frauen das betrifft, kann ich nicht beurteilen. Bei meinen Recherchen für den Film habe ich aber einige Frauen getroffen, die in ähnlichen Situationen waren oder sind. Es geht dabei nicht darum, dass eine Community oder gar eine Kultur schlecht ist. Es gibt aber ein paar Bedingungen, die mit den Wünschen und Idealen gerade junger Menschen nicht immer zusammenpassen. Alle Frauen, mit denen ich für den Film gesprochen habe, haben mir gesagt, dass sie ihre Kultur lieben und sie niemals aufgeben würden. Trotzdem sind sie mit einigen Regeln nicht einverstanden. Nicht jede bringt aber den Mut von Elaha auf, sie ändern zu wollen.

Sie haben bei „Elaha“ nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben, gemeinsam mit Constantin Hatz. Wie sind Sie auf die Geschichte gekommen?

Dafür mussten wir gar nicht weit reisen. Das Thema an sich ist mir als jesidische Kurdin ja sehr gut bekannt. Doch auch ich habe bei der Recherche sehr viel gelernt, zum Beispiel, dass es die Möglichkeit gibt, das sogenannte Jungfernhäutchen mit künstliches Blutkapseln aus der Apotheke vorzutäuschen. Da steht eine ganze Industrie hinter diesem Mythos der Reinheit und Unberührbarkeit der Frau. Letztlich machen da Konzerne Geld mit dem Leid und den Nöten junger Frauen. Solange Familien von ihren Töchtern verlangen, „rein“ zu sein, wird sich daran wahrscheinlich auch nichts ändern.

Die Figur Elaha setzt sich also aus den Erfahrungen und Schicksalen verschiedener Frauen zusammen?

Ja, genau so ist es. Ich hatte zum Beispiel ein Gespräch mit einer Ärztin aus einem Familienzentrum, die junge, verzweifelte Frauen berät, die bereits vor der Ehe Sex hatten und nun die Sorge haben, dass ihre Familie das herausbekommt und ihr Hymen rekonstruiert haben wollen. Wir haben dort ein Gespräch nachgestellt, das sie normalerweise mit den jungen Frauen führt, die zu ihr kommen. Das war eine heftige Erfahrung und ich war teilweise den Tränen nah. Dadurch habe ich einen kleinen Eindruck davon bekommen, was diese Frauen durchmachen. Es hat mir aber sehr geholfen, die Figur der Elaha gemeinsam mit meinen Co-Autor Constantin Hatz zu konstruieren.

Hatten Sie Sorge, dass Sie mit Ihrem Film die kurdische Community vor den Kopf stoßen?

Ja, total. Ich habe mich oft gefragt, was passiert, wenn sie sich angegriffen fühlen oder mich gar beschuldigen, ich würde eine Tradition zerstören. Das ist ja überhaupt nicht das Ziel des Films. Glücklicherweise war Constantin Hatz da ganz klar und hat gesagt, solange wir alles so darstellen, wie es sich abspielt, kann uns niemand etwas vorwerfen. Am Ende haben wir von der kurdischen Community sogar sehr viel Unterstützung erhalten.

Wie sind von dort bisher die Reaktionen auf den Film?

Insgesamt sehr positiv. Die kurdische Gemeinde in Stuttgart hat ja ganz am Anfang bereits das Drehbuch gelesen, weil sie uns Komparsen etwa für die Hochzeitsszene vermitteln sollten. Der Film lief in den vergangenen Monaten auch bereits auf einigen kurdischen Festivals. Die Resonanz war immer sehr gut und im Anschluss an die Vorführungen gab es so viele Fragen aus dem Publikum wie ich es noch nie erlebt habe. Das hat mir gezeigt, dass all die Sorgen, die ich am Anfang hatte, vollkommen unberechtigt gewesen sind. Wahrscheinlich hängt es aber auch mit der Konzeption des Films zusammen.

Inwiefern?

Wir wollten keine Täter- und Opfer-Rollen schaffen und haben beim Schreiben des Drehbuchs und auch beim Drehen des Films sehr darauf geachtet, dass er nicht in eine Schwarz-Weiß-Darstellung abgleitet. Es soll deutlich werden, dass nicht die einen die Ewiggestrigen sind und die anderen die progressiven Veränderer. Elahas Familie hängt ja auch in diesem patriarchalen Herrschaftssystem fest und leidet darunter.

Sie erzählen den Film in sehr schönen Bildern. Eine bewusste Entscheidung?

Ja. Darauf hat unser Kameramann Christopher Behrmann bei der Bildgestaltung sehr geachtet. Er wollte die Schönheit der Kultur hervorheben und kein klassisches Sozialdrama mit wackliger Kamera erzählen. Ich denke, das ist ihm sehr gut gelungen.

Wie groß ist die Gefahr, bei einem Film wie „Elaha“ ins Klischee abzugleiten?

Die Gefahr ist auf jeden Fall da. Als ich die Idee für „Elaha“ hatte und eine erste Synopse aufgeschrieben habe, gab es auch Menschen, die kritisiert haben, ich würde Narrative bedienen, die sie schon vor 20 Jahren bekämpft hätten. Wenn man sich den Film ansieht, versteht man aber schnell, dass wir diese Narrative nicht bedienen. Das liegt vor allem daran, dass wir Elahas Familie und die kurdische Community sehr liebenswert erzählen.

Warum ist es für Elaha, aber auch für ihre realen Vorlagen, so schwierig, aus der Welt, die sie kritisieren, auszubrechen?

Die Problematik, dass die Frau sich immer wieder unter Beweis stellen muss und ihr Körper permanent unter Beobachtung steht, ist ja kein Problem einer bestimmten Community. Leicht abgewandelt erleben wir das eigentlich in jeder Gesellschaft und in jeder Kultur. Das Problem ist universell. Wir alle sind gefangen in ungeschriebenen Regeln, die seit Jahrhunderten unser Leben prägen. Es ist nicht leicht, sie einfach über Bord zu werfen. Hinzu kommt die Angst vor sozialer Ausgrenzung und Verurteilung. Das hält das System am Laufen. Elaha ist die Einzige, die sagt: Nein, wir ändern das jetzt mal.

Sie wurden in Armenien geboren, haben dann in Deutschland eine Schauspiel-Ausbildung absolviert und im Bereich Drehbuch studiert. Sie sind damit in guter Gesellschaft anderer, junger Regisseur*innen mit Migrationsgeschichte. Wie verändert das das deutsche Kino?

Wenn Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen Geschichten entwickeln und auf die Leinwand bringen, werden diese Geschichten natürlich diverser. Viele Bereiche aus der deutschen Gesellschaft wurden bisher noch nie im Kino erzählt. Wir jungen Einwanderinnen und Einwanderer sind eine Chance, das nachzuholen. Daraus kann in den kommenden Jahren in Deutschland eine Filmbranche entstehen, die sehr vielfältig ist. Das ist eine riesige Chance – für das Kino, aber auch für marginalisierte Gruppen, die bisher nicht oder nur kaum im Kino stattfinden.

Kann das Medium Film helfen, Vorurteile abzubauen?

Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die Macht, die Kinofilme haben, ist riesig – im Guten wie im Schlechten. Nicht umsonst wurden und werden Filme ja auch in der Propaganda eingesetzt. Leider wurden im deutschen Kino in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Stereotype gerade von Migrantinnen und Migranten bedient. Sie haben das Bild vieler von der Einwanderergesellschaft geprägt. Mittlerweile hat sich das zum Glück gedreht und Filme helfen dabei, Vorurteile abzubauen, wahrscheinlich auch, weil die Gesellschaft heute offener dafür ist. Was das betrifft, ist gerade eine sehr gute Zeit für die deutsche Filmbranche.

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