Filmtipp

The Old Oak: Ken Loachs Drama über Migration stiftet Hoffnung

Nils Michaelis17. November 2023
TJ und Yara kämpfen für ein besseres Miteinander in einem abgehängten englischen Dorf.
TJ und Yara kämpfen für ein besseres Miteinander in einem abgehängten englischen Dorf.
Ein Kneipenwirt und eine Geflüchtete wollen gemeinsam die Dorfgemeinschaft retten: Auch Ken Loachs wohl letzter Film ist ein berührendes Sozialdrama. In Zeiten heftiger Kontroversen über Migration besticht es mit einer hoffnungsvollen Note.

Tut er es wirklich? Nach rund 30 Filmen will Ken Loach angeblich kein weiteres Projekt mehr starten. Ist „The Old Oak“ damit auch der Endpunkt der Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Paul Laverty? Diese begann 1996 mit „Carla‘s Song“ und brachte eine Reihe ergreifender, von Kritik wie Publikum gefeierter Filme über Entrechtete und Abgehängte hervor: von Fall zu Fall mit komischer oder tragischer Schlagseite

So oder so hat die Regiearbeit des 87-Jährigen Briten das Zeug zum Vermächtnis, vor allem im ethischen und politischen Sinne. Wie gewohnt widmet sich das frühere Mitglied der Labour Party Menschen, die unter Verhältnissen leiden, die sie nicht zu verantworten haben. Darin werden hochaktuelle gesellschaftspolitische Fragen miteinander verwoben.

Schauplatz der Handlung ist Englands Nordosten. Eine Gegend, die besonders unter dem brutalen Strukturwandel in der Ära Thatcher zu leiden hatte und es bis heute tut. Nachdem Zechen und Werften verschwunden waren, gingen auch die Menschen. Wer blieb, kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Soziale Strukturen lösten sich auf. Nicht nur die einst so schmucken Reihenhäuser der früheren Arbeitersiedlungen verfielen.

Angst vor dem Untergang

All das lässt sich in einer kleinen Ex-Bergbaugemeinde an der Küste besichtigen. „The Old Oak“ ist dort der letzte Pub. Ein paar Stammgäste kommen noch dorthin, um bei einem Pint die Gemeinschaft früherer Zeiten, vor allem während der großen Bergarbeiter-Streiks in den 80er-Jahren, zu spüren und dadurch Halt zu finden. Wenige Augenblicke in der heruntergekommenen Kneipe genügen, um ihren Frust und die Angst davor zu spüren, dass der Untergang ihrer alten Welt am Ende auch sie verschlingt.

Diese entwurzelte Gemeinschaft konfrontiert Loach, und das ist ein ungewohnter Ansatz, mit einer weiteren. Eines Tages trifft ein Bus mit syrischen Geflüchteten ein. Sie werden auf Häuser verteilt, deren Wert sich mittlerweile im freien Fall befindet. Die unverhoffte Zuwanderung löst nicht nur am Stammtisch zusätzliche Ängste aus. Mal subtil und mal drastisch wird uns vor Augen geführt: Da braut sich was zusammen.

In dieser explosiven Lage engagieren sich vor allem zwei Menschen dafür, dass sich alteingesessene und neue Dorfbewohner*innen einander annähern. Eigentlich hatte TJ Ballantyne, der einsame Wirt des „Old Oak“, den Kampf für eine bessere Gesellschaft aufgegeben. Die Begegnung mit Yara bringt ihn dazu, wieder größer zu denken.

Vermittlerin zwischen zwei Welten

Die junge Frau aus Syrien ist mit ihrer Mutter und Geschwistern ein paar Straßen weiter eingezogen. Durch ihre Englischkenntnisse und ihr selbstbewusstes Auftreten wird sie rasch zu einer Vermittlerin zwischen den beiden Welten dieser Gemeinde. Sie überzeugt den Endfünfziger, mit ihr und weiteren Unterstützer*innen einen kostenlosen Mittagstisch für alle im Dorf auf die Beine zu stellen. Auch, um ihnen emotionale Nahrung zu geben. Und zwar in dem seit Jahrzehnten verwaisten Festsaal des Pubs, wo die Menschen schon während der ausgiebigen Arbeitskämpfe zusammenkamen, um gemeinsam zu essen und Kraft zu schöpfen.

Der mit reichlich Bergarbeiter-Devotionalien verzierte Symbolort soll wiederbelebt werden. Es klingt nach einem perfekten Plan. Für den von vielen Lebenskrisen gezeichneten TJ ist es ein moralischer Turbo. Die traumatisierten Menschen aus Syrien hoffen auf einen von Sinnstiftung begleiteten Neuanfang. Doch weder TJ noch Yara ahnen, welchen Gegenwind ihr Projekt auslöst.

Von einem künstlerischen Vermächtnis dieser Kategorie dürften viele Hoffnung erwarten. Dieses Versprechen löst Ken Loachs mutmaßlich letztes Werk ein. Trotz all der düsteren und wutgetränkten Szenen, die wir in diesen atmosphärisch dichten 113 Minuten zu sehen bekommen.

Biografische Gemeinsamkeiten

Auch dieser Loach-Film lebt nicht zuletzt von seinem authentischen Ambiente und ebensolchen Schauspieler*innen. Zum Einsatz kamen überwiegend Laiendarsteller*innen aus jener Gegend und aus Syrien beziehungsweise mit einer syrischen Migrationsgeschichte. Hauptdarsteller Dave Turner, bekannt aus „I, James Blake“ scheint das Auf und Ab in TJs Seelenleben mit jeder Faser selbst zu durchleben, was auch an biografischen Gemeinsamkeiten liegen könnte.

Einige Szenen sind von großer, schnörkelloser Kraft und einer Emotionalität, die zu Tränen rührt. Und doch fehlt jenes fesselnde, für seine Protagonist*innen begeisternde Momentum, das vielen anderen Werken von Loach innewohnt. Es könnte daran liegen, dass viele Syrer*innen als Figuren blass bleiben – zumindest im Vergleich mit TJ und anderen „Alteingessenen“. Yara tritt uns vielschichtiger entgegen, insgesamt wirkt sie aber zu stark idealisiert.

Mit dem Blick auf zwei prekäre Gemeinschaften hat Loach sich und seinem Film möglicherweise zu viel zugemutet. Andererseits dankt man ihm für dieses mutige und berührende Werk über zentrale Herausforderungen von Transformations- und Einwanderungsgesellschaften. Mit den Mitteln der auf realen Ereignissen basierenden Fiktion zeigt er von Menschlichkeit getragene Auswege aus komplizierten Situationen auf. Selten war dieser Ansatz so gefragt wie heute.

 

Info:

„The Old Oak“ (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Belgien 2023), Regie: Ken Loach, Drehbuch: Paul Laverty, mit Dave Turner, Ebla Mari, Claire Rodgerson, Trevor Fox u.a., 113 Minuten.

Kinostart: 23. November

https://www.wildbunch-germany.de/movie/the-old-oak

 

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