Filmtipp

Animationfilm „Die Sirene“ zeigt einen bunten Iran

Nils Michaelis01. Dezember 2023
Die Sirene
Der 15-jährige Omid erlebt den Untergang seiner vertrauten Welt.
Mit einem Schiff will ein Teenager Menschen aus einer belagerten iranischen Stadt retten. Der Animationsfilm „Die Sirene“ erzählt eine märchenhafte Geschichte aus dem Krieg. Vor allem zeichnet er Irans Zeitenwende in ungewohnten Farben.

Ohne den Ersten Golfkrieg wäre die Geschichte Irans wohl anders verlaufen. Die 1980 vom Irak gestartete Invasion trug entscheidend dazu bei, das junge Mullah-Regime zu festigen. In der Abwehr eines gemeinsamen Feindes traten die Bruchlinien der Gesellschaft in den Hintergrund, zumindest ein Stück weit. Auch deshalb ist es für das Regime in Teheran so wichtig, das kollektive Bild jener für beide Kriegsparteien so blutigen Epoche zu kontrollieren. Es ist das Bild einer vermeintlichen Geschlossenheit.

Berührender Blick auf den Iran

Diesem propagandistischen Blick setzt die Filmemacherin Sepideh Farsi nun einen eigenen entgegen. Dieser ist äußerst subjektiv und bisweilen märchen- und rauschhaft, insgesamt jedoch nah an der Realität. Vor allem aber ist er sehr berührend. Die in Iran aufgewachsene und seit bald 40 Jahren im Pariser Exil lebende Künstlerin hat einen Animationsfilm über ein besonders dramatisches Kapitel des Iran-Irak-Krieges gedreht: die Belagerung der Stadt Abadan durch irakische Truppen.

Im Zentrum stehen Omid und seine Familie. Der Name des Jungen bedeutet „Hoffnung“. Diese auch in finstersten Zeiten nicht zu verlieren, ist eine entscheidende Facette dieser Geschichte. Omid kickt mit seinen Freunden auf dem Bolzplatz, als eine gewaltige Explosion den Himmel zerreißt. Irakische Raketen haben die riesige Raffinerie der Ölmetropole im Südwesten des Landes verwüstet. Es ist der Auftakt für die Belagerung und Zerstörung der Stadt.

Dienst an der Gemeinschaft

In langen Kolonnen flüchten die Menschen. Männer melden sich freiwillig zum Kampf. Omid ist zu jung, um Soldat zu werden. Also bleibt er beim Großvater. Und doch reift in ihm die Idee, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Weil immer mehr Granaten und Raketen einschlagen, sucht er einen Weg, um Menschen aus der kurz vor der Einnahme stehenden Metropole zu schleusen. Er findet ihn in einem Lenj, dem traditionellen Segelschiff jener Region am Grenzfluss Schatt al-Arab. Allerdings ist es schrottreif.

Fast noch herausfordernder als die technischen sind die psychologischen Hindernisse des Fluchtprojektes. Omid muss die Menschen, die in ihren Wohnungen und Läden ausharren, davon überzeugen, sich auf die gefährliche Reise in Sichtweite der Geschütze einzulassen und damit ihr gewohntes Leben aufzugeben.

Darunter sind vor allem Außenseiter, die sich der von der islamistischen Diktatur verordneten Uniformität verweigern. In privaten Nischen halten sie an Passionen fest, die viel weiter zurückreichen als der „Gottesstaat“. Einer dieser Sonderlinge ist die Sängerin Elaheh: Einst ein gefeierter Star, ist sie nun mit einem Auftrittsverbot belegt. Sie und die anderen Versteckten zeugen davon, wie kulturell vielfältig und kosmopolitisch das Zentrum der iranischen Erdölindustrie einst war. Das gilt auch für die armenischen Geistlichen, die sich in ihrer Kirche verschanzt haben.

Vielfältiger Iran

„Es war, als würde ich durch mein altes Abadan spazieren“, sagte eine Zuschauerin nach der jüngsten Berlin-Premiere des auf der Berlinale uraufgeführten Films. Die Regisseurin und ihr Team legten größten Wert darauf, das Erscheinungsbild von und den Alltag in der Stadt möglichst detailgetreu wiederzugeben. Mit dokumentarischer Präzision wurde das Abadan des Jahres 1980 wieder zum Leben erweckt: Es steht für eine vergangene und viel buntere Welt als jene klischeehaften und grimmigen Bilder, die der postrevolutionäre Iran damals auch selbst nicht müde wurde, in die Welt zu senden.

Kräftige Blautöne, sanftes Rot sowie Sandfarben geben ein Gefühl für die typischen Farben von Häusern und Bekleidung, aber auch der Natur in der Region. Das begrenzte Kontingent an Farben untermalt zudem das durch Einschränkungen geprägte Leben im Belagerungszustand. So erhält man ein Gefühl für Omids zusammenbrechende Welt.

Je nach dem Stand der Erzählung wechselt das Farbenspiel zu lichten und düsteren Nuancen. Der sich steigernde Sog des Ganzen lebt auch davon, dass die Bilder (insbesondere im Hintergrund) trotz der wachsenden Bedrohung nie eindimensional geraten und immer wieder überraschende und komplexe Zwischentöne aufzeigen.

Botschaft an die Gegenwart

Sepideh Farsi ist unter anderem durch ihren Film „Teheran without Permission“ bekannt geworden: Im Jahr 2009 dreht sie heimlich mit dem Handy in Irans Hauptstadt und dokumentierte einen Alltag voller Widersprüche. Sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass die Massenproteste vom vergangenen Jahr in ihrem Geburtsland Veränderungen in Gang gesetzt haben.

Mit dem 15-jährigen Omid hat die 1965 geborene Filmemacherin eine Figur geschaffen, die zeigt, wie ihre Generation als Teenager jene Zeit des Umbruchs erlebt hat. Omid riskiert alles, um das Unmögliche möglich zu machen. Das lässt sich als Botschaft an die heutige Jugend im Iran verstehen, die genug hat vom Diktat der Mullahs.

„Die Sirene“ (Frankreich/Deutschland/Luxemburg/Belgien 2023), Regie: Sepideh Farsi, Buch: Javad Djavahery, Animation: Zaven Najjar, in der deutschen Fassung mit den Stimmen von Melika Foroutan und André Hennicke, 100 Minuten, ab zwölf Jahre.

https://grandfilm.de/die-sirene/

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