Film der Woche

Filmtipp „Luftkrieg“: Eine Symphonie zu den Schrecken des Krieges

10. März 2023
Bilder aus dem Inferno des Zweiten Weltkrieges: Mit den Luftangriffen kam der Krieg zurück nach Deutschland.
Bilder aus dem Inferno des Zweiten Weltkrieges: Mit den Luftangriffen kam der Krieg zurück nach Deutschland.
Der Dokumentarfilm „Luftkrieg – die Naturgeschichte der Zerstörung“ ruft das Bombeninferno des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung. Er verknüpft damit moralische Fragen, die auch mit der Gegenwart zu tun haben. Antworten lässt er vermissen.

Es ist eine irritierende Szenerie: Inmitten der Trümmer stehen nachgebildete menschliche Skelette. Sie gehören zum Inventar der Universität Leipzig. Nach einem Luftangriff haben Uni-Mitarbeiter*innen das, was noch zu retten war, auf den Gehweg gestellt. Die Skelette wirken wie Boten aus dem Reich des Todes, das nun Einzug hält. Zugleich stehen sie für die Wissenschaft, die vor Krieg und Zerstörung kapitulieren muss. Obwohl sie den modernen Massenkrieg des 20. Jahrhunderts mit ihren „Errungenschaften“ erst möglich gemacht hat.

Die Bilder gehören zu einem etwa 30 Stunden umfassenden Fundus aus Archivaufnahmen zum Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg, den der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa („Donbass“, „Maidan“) für seinen neuen Dokumentarfilm ausgewertet hat. Inspiriert von W.G. Sebalds Buch „Luftkrieg und Literatur“ beschäftigt sich Loznitsa mit dem Untergang deutscher Städte im Zuge der Flächenbombardements der westlichen Alliierten. Sebald vertrat in seinem Buch die These, deutsche Nachkriegsliteraten hätten sich zu wenig mit dem Leid der Zivilist*innen beschäftigt. Diese These ist umstritten. Sebald wurde Revisionismus vorgeworfen.

Bilder der Verwüstung

Zerstörung und Leid finden bei Loznitsa breiten Raum. Aus vielerlei Perspektiven veranschaulicht er das Ausmaß der Verwüstung in Berlin, Köln, Hamburg und weiteren Metropolen. Vor allem aber verknüpft er mit den Bildern von Ruinen und Leichen grundlegende Fragen: Ist es moralisch vertretbar, im Krieg gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen? Lässt sich die Massenvernichtung von Menschen mit höheren Idealen rechtfertigen?

In Interviews lässt der 59-Jährige keinen Zweifel daran, wie er zu diesen Fragen steht. Sein Film, der letztes Jahr in Cannes lief, ist weniger eindeutig. Das beginnt schon damit, dass er – im Sinne des gesprochenen Wortes – weitgehend stumm bleibt. Einen Kommentar gibt es nicht. Die Bilder von brennenden Städten und Bombengeschwadern wurden mit Musik und Geräuschen unterlegt. Nur in wenigen Momenten kommen hochrangige Militärs und Politiker zu Wort. Sie liefern Beispiele für jene Rhetorik oder Propaganda, die auch in unseren kriegerischen Zeiten gerne genutzt wird.

Das Leid der Zivilbevölkerung

Aus dieser Synthese lassen sich Antworten auf die genannten Fragen ableiten. Diesen Erkenntnisprozess überlässt Loznitsa allerdings den Zuschauenden. Ihm geht es nicht um Schuld oder die Frage, wer damit begonnen hat, Wohngebiete zu bombardieren. Eher dienen die Bilder aus der Hölle in Deutschland – und gelegentlich auch in Großbritannien – dazu, auf ein Phänomen hinzuweisen, das vom Zweiten Weltkrieg bis in die Konflikte der Gegenwart zu finden ist: Terror gegen Zivilist*innen, ermöglicht durch technisch ausgeklügelte Fernwaffen. Man denke nur an Russlands Krieg gegen die Ukraine.

„Luftkrieg“ reicht von den letzten Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkrieges über die ersten Großangriffe auf Rostock und Köln bis hin zum kollektiven Inferno in den späten Kriegsjahren. Zu sehen ist nicht nur, wie Großbritannien und die USA neueste Waffen einsetzen, sondern auch, wie sie entwickelt wurden. Der Mensch, dessen Wissen stets in Zerstörung mündet: Anhand des Bombenkrieges wird uns auch eine Art „Naturgeschichte“ des Menschen vorgeführt.

Drastische Sprünge in der Zeit

Der Film vermeidet eine klare Chronologie. Durch den Sprung zwischen den Zeiten entstehen immer wieder drastische Brüche und Kontraste. Andererseits lassen die Aufnahmen von blühenden deutschen Altstädten ohnehin keinen anderen Schluss zu als den, dass diese trügerische Idylle bald ein Ende haben wird. Insgesamt lebt der Film von einem ruhigen und sorgfältig komponierten Bilderfluss, der manchmal fast schon symphonische Züge trägt. Und das angesichts einer schrecklichen Materie, die uns in Erinnerung ruft, dass auch gegenwärtig Krieg in Europa herrscht.

Loznitsa setzt auf ein Publikum mit einigem Vorwissen. Für ein solches kann dieser Film ein reizvolles intellektuelles Experiment sein. Wer weniger Wissen mitbringt, dürfte irgendwann die Orientierung und damit auch das Interesse verlieren. Die geistige Offenheit des Films ist lobenswert. Und doch wäre es auch im Sinne der Dramaturgie wünschenswert gewesen, wenn die eigene Position deutlicher herausgearbeitet worden wäre. „Luftkrieg“ stellt wichtige Fragen und hinterlässt viele Fragezeichen.

Info: „Luftkrieg – die Naturgeschichte der Zerstörung" (Deutschland, Niederlande, Litauen 2022), ein Film von Sergei Loznitsa, 109 Minuten, FSK ab 12 Jahre.
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