Filmtipp

„Das Hamlet Syndrom“: Sein oder Nichtsein in der Ukraine

20. Januar 2023
Oxana und Katja bei den Proben zur Aufführung „Das Hamlet Syndrom“.
Oxana und Katja bei den Proben zur Aufführung „Das Hamlet Syndrom“.
Aus traumatischen Erfahrungen wird Kunst: Der Dokumentarfilm „Das Hamlet Syndrom“ begleitet junge Ukrainer*innen bei einem ungewöhnlichen Theaterprojekt. Ein erschütterndes, aber auch kraftvolles Porträt einer neuen Generation des Krieges.

Sein oder Nichtsein? Drei Worte aus William Shakespeares Klassiker „Hamlet“ genügen, um das Drama der von Russland attackierten Ukraine auf den Punkt zu bringen. Auf dass daraus keine Tragöde werden möge. Sein oder Nichtsein: Vor dieser existenziellen Entscheidung stehen insbesondere viele junge Ukrainer*innen seit der Maidan-Revolution und der anschließenden Konflikte um die Krim und den Donbass. Radikal sein oder Kompromisse eingehen? Kämpfen oder nicht kämpfen? Bleiben oder das Land verlassen? Auch so lässt sich Hamlets Frage im Lichte der vergangenen neun Jahre verstehen.

Das vom russischen Regime verschuldete Abgleiten der Ukraine in die Gewalt hat, wenn man so will, viele „Hamlets“ hervorgebracht. Einige von ihnen haben sich rund anderthalb Jahre vor Russlands Invasion in einem alten Theatersaal versammelt. Darunter sind Schauspielerinnen und Schauspieler, die ab 2013/2014 die Bühne mit der Front tauschten oder sich anderweitig für eine bessere Zukunft ihres Landes eingesetzt haben. Jeder und jede ist von Krieg und Gewalt, aber auch von Ohnmacht, Wut und Enttäuschung gezeichnet.

Die Bühne als Plattform innerer Welten

Nun stehen sie auf der Bühne, um beim gemeinsamen Proben die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten oder womöglich zu überwinden. Und zwar, indem sie mit Motiven des Schauspiels über einen rachsüchtigen und hadernden Prinzen von Dänemark ihr eigenes und das kollektive Schicksal erforschen. Ihr Stück „Das Hamlet-Syndrom“ ist gleichermaßen ein Kunst- und Therapieprojekt. Seine Struktur erarbeitet die Regisseurin während der Proben auf der Grundlage von Gesprächen mit den Charakteren, die auch im Mittelpunkt der filmischen Erzählung stehen.

Der gleichnamige Dokumentarfilm erzählt vor allem von der frühen Phase dieses Projektes. Davon, wie eine Gruppe von Frauen und Männern Spuren eines großen Konfliktes in sich tragen und doch ganz unterschiedlich ticken. Die Bühne wird zur Plattform ihrer inneren Welten, aber auch zum Schauplatz von mitunter rabiaten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Temperamenten und Ideen.

Slavik erinnert sich genau an die Todesangst, die Verzweiflung und die Demütigungen, die er als Gefangener der Separatisten im Osten des Landes erlebte. Auch Ex-Sanitäter Roman ist von seinen Fronterfahrungen zutiefst traumatisiert. Die ehemalige Kämpferin Katja glaubt an den Dienst an der Nation, wünscht sich aber vor allem, dass ihre Mutter ihr vergibt, in den Krieg gezogen zu sein. Rodion floh aus dem Donbass nach Kiew und hat grausame Erfahrungen mit Homophobie gemacht. Oxana kämpft mit den Mitteln der Kunst gegen alles Üble und träumt von einem Leben im Ausland.

Schmerzhafte Szenen

Was sich vor unseren Augen – und begleitet von Regieanweisungen – auf der Bühne abspielt, ist vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegshandlungen in der Ukraine umso schmerzhafter, bisweilen aber auch prophetisch. Zugleich wohnt den Szenen, die bis hin zur Premiere vor Publikum reichen, eine besondere Kraft und Energie inne.

Die Filmemacher*innen Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski schonen weder die Protagonist*innen noch das Publikum. Kann es am Ende die große Katharsis für all diese Menschen geben, die sich auch deswegen auf den Bühnenbrettern quälen, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben?

Um die Geschichten der Bühnendarsteller*innen breiter zu beleuchten, begleitet sie der Film auch abseits der Proben und gibt Hinweise darauf, wie sie aktuell leben. Die Erweiterung des Blickfeldes tut nicht nur der Dramaturgie gut: So wird einmal mehr deutlich, wie stark Krieg und Gewalt beziehungsweise deren Folgen das Leben zahlloser Ukrainer*innen bereits vor dem 24. Februar 2022 bestimmt haben. In Momenten zwischenmenschlicher Vertrautheit tritt dies besonders deutlich zutage.

Die Welt soll es wissen

„Unsere Charaktere hatten unterschiedliche Motive für die Teilnahme bei dem Film und dem Theaterstück“, sagt die polnisch-deutsche Co-Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Elwira Niewiera. „Trotzdem wollten alle ausnahmslos, dass die Welt davon erfährt, was sie im Krieg als die Soldaten erlebt haben, die sie nie sein wollten.“

Durch seinen präzisen Blick auf die einzelnen Persönlichkeiten macht „Das Hamlet Syndrom“ einmal mehr klar, wie schwer es ist, den Krieg hinter sich zu lassen. Und dass Kunst den Weg hin zu neuer Hoffnung ebnen kann. Selbst angesichts der Tatsache, dass das Bühnenstück längst von einer neuen Realität eingeholt wurde.

„Das Hamlet Syndrom" (Polen, Deutschland, 2022), ein Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski, 85 Minuten. Jetz im Kino.

weiterführender Artikel