Vorbild Brandt

Was Europa von Willy Brandts Kniefall lernen kann

Knut Dethlefsen07. Dezember 2020
Lernen von Willy Brandt: Die EU muss sich kraftvoller und konsequenter gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa engagieren.
Lernen von Willy Brandt: Die EU muss sich kraftvoller und konsequenter gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa engagieren.
Mit seinem Kniefall legte Willy Brandt vor 50 Jahren den Grundstein für die Einigung Europas. Darauf sollte sich die europäische Politik besinnen und sich vom Geist des Kniefalls inspirieren lassen – auch im Verhältnis zu den USA.

Am Morgen des 7. Dezember 1970 geht ein Bild um die Welt: Langsam, mit schweren Schritten und versteinerter Miene schreitet der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt auf das Denkmal der Helden des Ghettos in Warschau zu. Ein großer Kranz mit weißen Nelken wird niedergelegt. Brandt rückt die schwarz-rot-goldene Schleife zurecht. Dann sinkt er plötzlich und unerwartet auf die Knie. Der Kniefall von Warschau – dieser spontane Gefühlsausbruch vor dem Denkmal der Helden des Ghettos – ist mehr als nur eine Geste. Er wird zur Ikone der Versöhnung. Willy Brandt ehrte mit diesem Kniefall nicht nur die Aufständischen des Warschauer Ghettos. Er setzt auch ein eindrucksvolles Zeichen der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen – ein Zeichen des Aufbruchs und des Neubeginns, ein Symbol der Neuen Ostpolitik.

Ein Meilenstein auf dem Weg der europäischen Versöhnung

Mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags am Nachmittag des 7. Dezember 1970 untermauerte Brandt anschließend das neue politische Prinzip der Bundesrepublik des „Wandels durch Annäherung“: 25 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erkennt die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens an und verzichtet auf alle Gebietsansprüche. Dieser Vertrag ebnet den Weg zur Partnerschaft zwischen Polen und Deutschland und hilft, die Teilung Europas zu überwinden. Der Besuch des deutschen Bundeskanzlers in der polnischen Hauptstadt wird zum Meilenstein auf dem Weg der europäischen Versöhnung, der Annäherung von Ost und West und der europäischen Integration.

Im Interview 2010 mit dem Museum des Warschauer Aufstand unterstreicht Egon Bahr, der Vertraute Brandts und „Architekt der Neuen Ostpolitik“, die Bedeutung des Warschauer Vertrags. Er sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass Polen nach Europa zurückkehre und für den Fall einer Überwindung des Ost-West-Konfliktes sich selbst eine große Zukunft eröffnete. Eindrücklich beschreibt Bahr den enormen Druck und die Anspannung, unter der Willy Brandt während seiner Polen-Reise stand. „Ich hatte plötzlich das Gefühl, einen Kranz niederzulegen reicht nicht“, zitierte Egon Bahr Willy Brandt nach dessen Kniefall. Brandt selbst schrieb in seinen Erinnerungen: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung Europas

Hermann Schreiber vom „Spiegel“ ordnete den Kniefall zeitgeschichtlich richtig ein: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“ Für die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten durch die Anerkennung des Status quo erhält Willy Brandt im Dezember 1971 den Friedensnobelpreis.

Seine politische Botschaft war einfach, das Ziel klar: Durch das Eingeständnis deutscher Schuld vollzog Willy Brandt einen wichtigen Schritt hin zur Überwindung der Spaltung Europas. Das Nobelkomitee begründet die Preisverleihung wie folgt: „Willy Brandt hat im Namen des deutschen Volkes die Hand zu einer Versöhnungspolitik zwischen alten Feindländern ausgestreckt und einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Möglichkeiten für eine friedliche Entwicklung nicht nur in Europa, sondern in der Welt als Ganzes geleistet.“

Die europäische Politik könnte sich inspirieren lassen.

In einer vielbeachteten Rede im Warschauer Schloss 2010 auf der Tagung „Europa – Kontinent der Versöhnung?“ hob der amerikanische Historiker Fritz Richard Stern die Symbolkraft von Willy Brandts Besuch in Warschau hervor. An Aktualität habe das Thema „Versöhnung“ angesichts der weltweiten Konflikte nicht verloren. Die europäische Politik stehe vor der Aufgabe, Verantwortung für weitere Aussöhnungsprozesse zu übernehmen. Stern beklagte prophetisch die erneut aufkeimenden politischen Nationalismen und Egoismen. Die vormalige Leidenschaft für Europa sei rivalisierenden Haltungen gewichen, die liberalen Ideale des Westens befänden sich in einer schweren Krise.

Stern betonte die Wichtigkeit, den Westen wieder als Ganzen zu denken und dabei auch die transatlantische Perspektive einzubeziehen, um aufklärerische Ideale wiederzubeleben. Wahrer Mut zeichne sich dadurch aus, auch angesichts kurzfristiger politischer Einbußen zu handeln. Der europäische Geist sollte wiederbelebt und die aktuelle Krise genutzt werden, um etwa das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell weiterzuentwickeln, so Stern. Genau diesen Mut benötigen wir heute noch mehr, wo sich Europa und die USA nach dem Wahlsieg Joe Bidens und vier Jahren „America frist“ neu finden und das transatlantische Verhältnis neu erfinden können. Die europäische Politik könnte sich inspirieren lassen.

Eine neue Ostpolitik ist möglich

Die EU muss sich kraftvoller und konsequenter gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa engagieren. Es geht darum, gegen Regierungen, Politiker*innen oder Parteien vorzugehen, die die Demokratie in ihren Ländern untergraben und Grund- und Freiheitsrechte von Bevölkerungsgruppen einschränken wollen. Es geht letztendlich auch darum, die Demokratie in den eigenen Gesellschaften zu verteidigen.

Die außenpolitischen Ambitionen der EU scheitern oft an dem Mangel an Einigkeit und der Schwäche im gemeinsamen Handeln. Hier sollten die vier Jahr Trump eigentlich zu Veränderung und zu einem Bewusstsein für mehr europäische Verantwortlichkeit in der internationalen Politikgestaltung führen. Dazu würde auch gehören, der Ukraine und Belarus neue Wege zu ebnen. Eine neue Ostpolitik ist denkbar, die mehr Wert legt auf demokratische Gestaltung und Partizipation als auf Stabilität im Wandel.

In jedem Fall ist nun mit einer Biden-Administration als Partner ein glaubhafter Einsatz für Demokratie und eine internationale Ordnung des Rechts im transatlantischen Verbund wieder möglich. Eine Niederlage Trumps ist insgesamt eine Stärkung der Vorstellung der Wehrhaftigkeit der Demokratie selbst. Nur muss diese historische Chance nun auch genutzt werden.

Willy Brandts Mut hat noch heute Vorbildcharakter

Bis heute hat Willy Brandts Politik nichts an Aktualität verloren. Sein Mut, neue Wege trotz unüberwindbar erscheinender Hindernisse zu bereiten und zu beschreiten hat Vorbildcharakter. Im Angesicht von einer Renationalisierung der Politik im Rahmen der Coronakrise, der Anfälligkeit der westlichen Gesellschaften für Rechtspopulismus oder Schlimmeres und der Krisenhaftigkeit der Europäischen Union lässt sich – ganz im Brandtschen Sinne – Europas Bürgern und Politikern zurufen: „Verteidigt die Demokratie, aber wagt auch weiter!“

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Kommentare

Schritt zur Überwindung der Spaltung Europas

In der Tat war der Kniefall von Willy Brandt ein Schritt zur Überwindung der Spaltung Europas.
Aber wie sieht es heute aus? Europa ist gespaltener denn je, wenn man an Brexit, Rechtsextremismus, die Nettogeldempfänger in Polen und Ungarn, vor allem aber die waffenstrotzende Aufrüstung und Nato-Erweiterung nach Osten mit Manövern, Sanktionen u.ä. denkt.

Dies war sicherlich nicht im Sinne von Willy Brandt, auch wenn die damaligen Machthaber im Warschauer Pakt nicht besser waren als heute.

Was Europa lernen will ist die Frage

Es gibt genügend inspirierende und abschreckende Beispiele die bei tatsächlichem Lernwillen die "neoliberale" Politik normalerweise schon längst in den Mülleimer gekippt haben müßten.
Die Zerstörung der englischen Wirtschaft seit Thatcher zum Beispiel. Oder hierzulande die zerstörerischen Folgen von "Deregulierung" und anderen Fehlgriffen der "Agenda".
Das Erstarken der "Front national" in Frankreich, die "Wahl" Macrons weil die französischen Nachbarn eben LePen nicht wollten. (Nun haben sie sie eigentlich doch bekommen, rechtsextrem und neoliberal sind bis auf die Rhetorik schließlich asozial gleich).

Impulse und Symbole gab es genug.
Nur scheint es so das der "Schüler" Europa und auch der "Schüler" Bundestag konsequente Lernverweigerer sind.