Filmtipp

„Corpus Christi“: Ein Hochstapler rettet die katholische Gemeinschaft

04. September 2020
Szene aus „Corpus Christi“: Dieser junge Pater geht ungewöhnliche Wege.
Szene aus „Corpus Christi“: Dieser junge Pater geht ungewöhnliche Wege.
Ein junger Ex-Häftling tarnt sich als Priester und krempelt eine ganze Gemeinde um: Das polnische Drama „Corpus Christi“ zeigt, wie ein Ausgestoßener zum Erlöser wird.

Wenn der Gefängnispfarrer geahnt hätte, wie diese Geschichte endet, hätte er sich seine ermutigende Ansprache womöglich verkniffen. „Ihr seid alle Priester“, ruft er den jungen Männern zu, die sich in einem polnischen Jugendknast zur Heiligen Messe versammelt haben. Er meint damit, dass auch Laien imstande sind, ein gottgerechtes Leben zu führen und ihren Mitmenschen von dessen Segnungen zu künden.

Daniel, ein Messdiener, der hinter Gittern eine religiöse Erleuchtung hatte, wünscht sich allerdings nichts sehnlicher, als nach seiner kurz bevorstehenden Entlassung ein neues Leben als Priester in Amt und Würden zu beginnen. Obwohl er weiß, dass kein Priesterseminar einen Vorbestraften wie ihn aufnehmen würde. Doch siehe da: Wenig später wird der 21-Jährige tatsächlich mit den Bewohnern eines Städtchens am anderen Ende des Landes beten und ihnen die Beichte abnehmen.

Verrückt, aber wahr

Dieser Plot klingt durchgeknallt? Oder nach einer ausgelutschten Hochstapler-Komödie? Mitnichten! Immer wieder wird darüber berichtet, dass sich (straffällig gewordene) Menschen als Priester ausgeben. So auch in Polen. Der Regisseur Jan Komasa greift in „Corpus Christi“ eine im Kern wahre Begebenheit auf, die sich 2011 in seinem Heimatland ereignet hat. Er tut dies allerdings nicht etwa in Form einer Komödie, die sich in der Maskerade eines Ex-Knackis erschöpft.

Vielmehr hat der 38-Jährige daraus ein psychologisch-feinsinniges Drama mit tragischen Zügen gezimmert. Im Mittelpunkt steht ein Mensch, der sich und sein Leben neu entdeckt, obwohl schnell klar wird, dass er eigentlich keine Zukunft hat – oder zumindest keine besonders glückliche. Ein Mensch, der sich in seiner Tarnidentität opfert, um einer Gemeinschaft die Erlösung zu bringen.

Letzterer Handlungsstrang mag biblischen Charme versprühen, doch Komasas Erzählung, die in diesem Jahr für einen Oscar nominiert war, ist vielmehr um Realismus bemüht. So folgt Daniel keineswegs einer inneren Vorsehung. Vielmehr stolpert er in seinen Traumjob hinein. Denn die Gefängnisleitung hatte etwas ganz anderes mit ihm vor: Nach dem Ende seiner Haft schickt man ihn auf Bewährung in ein Sägewerk. Durch einen Zufall und eine Lüge entkommt er diesem für ihn wenig erbaulichen Los.

Eine Gemeine nur in Trauer vereint

Als Geistlicher, der ziemlich oft improvisieren muss und will, steht der schmächtige Jüngling mit den melancholischen Augen einer ländlichen Gemeinschaft gegenüber, die allein in der Trauer um ein paar Jugendliche, die bei einem Autounfall starben, vereint ist. Ansonsten verharren alle in einer selbst gewählten Isolation. Das gilt auch für Lydia. Als rechte Hand des Pfarrers, den Daniel nun vertritt, ist sie die eigentliche Macht in der katholischen Kirchengemeinde.

Mit unkonventionellen Mitteln legt sich der neue Hirte ins Zeug, um seine tiefgläubigen Schäfchen aus ihrer Erstarrung zu befreien. Sei es im Hinblick auf die Routine der Messe oder die nicht minder ritualisierte Trauer um ihre Kinder, die sie gemeinsam vor einer Art Altar aus Blumen und Fotos ausleben. Warum nicht einfach mal schweigen, anstatt gemeinsam Altbekanntes herunterzubeten?

Überraschenderweise haben Daniels Methoden Erfolg. Somit erlebt der Zuschauer ein doppeltes Wunder: Nicht nur, dass der Ex-Häftling den Weg beschreiten kann, den er sich erhoffte: Er wird von einer Gemeinschaft aufgenommen, die – bezogen auf seine wahre Identität – von seinesgleichen wenig hält. Womit wir wieder beim Biblischen wären. Freilich schwebt über all dem stets die Gefahr aufzufliegen.

Daniel alias Pater Tomasz ist bewusst, dass er mit seinem Revoluzzertum die Elite dieser ländlichen Welt gegen sich aufbringt. Was das konkret bedeutet, wird ihm und den Zuschauenden nach und nach, am Ende jedoch umso drastischer vor Augen geführt.

Porträt einer unter Druck stehenden Gesellschaft

„Corpus Christi“ bietet durchaus Raum für Komik. Da Regie und Drehbuch sowohl Daniel – sein ausgemergeltes Äußeres lässt seine Vorgeschichte erahnen und ihn mehr als Leidensgestalt denn als Heilsbringer erscheinen – als auch die Gläubigen äußerst ernst nehmen, werden die entsprechenden Situationen allerdings anders als erwartet aufgelöst. Komasa bettet sie in eine ästhetisch strenge Erzählweise ein, die von einer subtilen Spannung lebt, sich aber auch einige Eruptionen leistet.

Dieses Porträt einer unter Druck stehenden Gesellschaft, die sich an ihren Narben weidet, anstatt nach vorne zu blicken, schaut, mitunter mit drastischen Mitteln, genau hin, moralisiert allenfalls in feinen Nuancen und liefert vor allem immer Bilder von überwältigender, mitunter auch trügerischer Schönheit: Dies gilt vor allem für jenen Szenen, in denen sich Daniels Verlorensein offenbart. Komasa will seinen in Polen mit Preisen überhäuften Film als Spiegelbild realer Gesellschaften wissen – nicht nur, aber gerade in unserem östlichen Nachbarland.

Info: „Corpus Christi“ (Polen 2019), ein Film von Jan Komasa, mit Bartosz Bielenia, Aleksandra Konieczna, Eliza Rycembelu.a., 115 Minuten.

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