Im Rückspiegel

Warum Willy Brandt den Nobelpreis nicht nur für die Ostpolitik erhielt

Kristina MeyerBernd Rother20. Oktober 2021
Vor 50 Jahren: Am 20. Oktober 1971 bekam Willy Brandt den Friedensnobelpreis zuerkannt.
Vor 50 Jahren: Am 20. Oktober 1971 bekam Willy Brandt den Friedensnobelpreis zuerkannt.
Vor 50 Jahren wurde Willy Brandt der Friedensnobelpreis zugesprochen. Doch wofür erhielt er ihn genau? Der Blick zurück zeigt, dass nicht nur Brandts Ostpolitik ausgezeichnet wurde, sondern auch seine aktive Europapolitik.

Willy Brandt hat den Friedensnobelpreis für seine Ostpolitik erhalten – so hört man es allenthalben. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn in der Begründung des Nobelpreiskomitees vom 20. Oktober 1971 heißt es auch: „Willy Brandt sieht eine Stärkung der Zusammenarbeit in Westeuropa als einen integrierenden Teil eines Friedensplanes für ganz Europa an. Auch bezüglich der Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit in Westeuropa hat der Bundeskanzler wichtige Initiativen ergriffen.“

Der Haager Gipfel hinterließ Eindruck beim Nobelkomitee

Den Friedensnobelpreis erhielt Brandt also auch als Anerkennung für seine aktive Europapolitik. Welche „Initiativen“ hatte das Nobelkomitee des norwegischen Parlaments dabei im Sinn? Vermutlich – denn die Protokolle sind nicht zugänglich – hatten insbesondere die Ergebnisse des Haager Gipfels vom Dezember 1969 Eindruck hinterlassen. Dort war frisch gewählten Bundeskanzler die Lösung einer Reihe von Problemen gelungen, welche die Europäische Gemeinschaft (EG) seit Jahren gelähmt hatten, und er konnte wegweisende Beschlüsse herbeiführen. Endlich stimmte Frankreich Verhandlungen mit Großbritannien über den Beitritt zur EG zu.

Auch Dänemark, Irland und Norwegen sollten Mitglieder werden; die norwegische Bevölkerung lehnte aber – zu Brandts großem Bedauern – im September 1972 per Referendum den Beitritt ab. Vereinbart wurde in Den Haag auch die Einrichtung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, aus der später die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EG erwuchs. Langfristig steuerte die Gemeinschaft – auch das ein Beschluss in der niederländischen Hauptstadt – auf eine Wirtschafts- und Währungsunion zu. Und erstmals erhielt die EG eine eigene Finanzierungsquelle.

Gehässige Kampagne der Brandt-Gegner*innen

Der historische Zufall wollte es, dass Willy Brandt, 35 Jahre bevor er den Friedensnobelpreis zuerkannt bekam, schon einmal in enge Berührung zu diesem Preis gekommen war. Der politische Flüchtling, der seit 1933 in Oslo lebte, gehörte zu den Aktivist*innen, die forderten, der Hitler-Gegner und KZ-Häftling Carl von Ossietzky solle mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden. An seiner Seite stritt die junge norwegische Sozialdemokratin Aase Lionaes. 1936 hatte die Kampagne Erfolg, Ossietzky erhielt den Preis.

Aase Lionaes stand 1971 dem Nobelkomitee des norwegischen Parlamentes vor. Daraus konstruierten Gegner*innen Willy Brandts wiederum eine gehässige Kampagne, in der sie behaupteten, der Bundeskanzler habe den Preis nur aufgrund einer Kumpanei unter Genoss*innen erhalten. Dabei waren lediglich zwei der fünf Mitglieder des Komitees Sozialdemokraten. Andere Verleumder verbreiteten, Bestechung sei im Spiel gewesen.

Das mag heute völlig absurd klingen. Aber 1971 setzte die CDU/CSU-Opposition so gut wie alles daran, die Regierung zu diskreditieren, um sie so schnell wie möglich aus dem Amt verdrängen zu können. Das zeigte sich auch an der Reaktion der Unionsfraktion im Bundestag, als die Nachricht von der Zuerkennung des Friedensnobelpreises eintraf. Ja, Rainer Barzel gratulierte, aber nur eine Minderheit seiner Fraktion schloss sich dem an. Der „Spiegel“ schrieb damals: „Stehend applaudierten die Koalitionsfraktionen von SPD und FDP (…). Die etwa 60 anwesenden CDU/CSU-Abgeordneten blieben auf ihren Klappstühlen, bis auf wenige Aufrechte wie Hermann Höcherl (…). Als Höcherl zum Aufstehen winkte, erhoben sich einige weitere Abgeordnete, blieben aber dann unschlüssig zwischen Stehen und Sitzen auf der Kante des Klappstuhls hocken.“

Der Nobelpreis als Ermutigung

Willy Brandt verstand den Friedensnobelpreis nicht als „Belohnung“ für ein abgeschlossenes Werk, sondern als Ermutigung, auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranzugehen. Noch hatte der Bundestag die Verträge mit Moskau und mit Warschau nicht ratifiziert; die Verhandlungen mit der DDR erwiesen sich als zäh, und die mit der Tschechoslowakei stagnierten gänzlich. Aber in seinem Vortrag an der Universität Oslo aus Anlass der Preisverleihung löste sich Willy Brandt von den aktuellen Problemen und stellte seine Ostpolitik in einen größeren Zusammenhang. Die von ihm geführte Bundesrepublik verstehe sich als „Friedensmacht (...). Der Übergang von der klassischen Machtpolitik zur sachlichen Friedenspolitik, die wir verfolgen, muss als der Ziel- und Methodenwechsel von der Durchsetzung zum Ausgleich der Interessen begriffen werden. (…) Vom geheiligten Egoismus der Nation soll sie zu einer europäischen und globalen Innenpolitik führen, die sich für ein menschenwürdiges Dasein aller verantwortlich fühlt.“

Die „globale Innenpolitik“ blieb für Willy Brandt keine Ankündigung ohne Praxisbezug. Nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Mai 1974 wandte er sich immer mehr der Nord-Süd-Problematik zu. 1976 trat er an die Spitze der Sozialistischen Internationale, die er zu einem ernstzunehmenden Faktor der internationalen Politik machte. 1977 übernahm er den Vorsitz der „Nord-Süd-Kommission“, die Vorschläge für die Überwindung von Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Verschuldung vieler Länder des Südens entwickelte und dabei auf das Eigeninteresse des „Nordens“ verwies.

Bleibt eine letzte Frage: Was machte Willy Brandt mit dem Preisgeld? Er unterstützte damit die Restaurierung der von Verfall bedrohten ältesten Synagoge Venedigs.

Kolumne des SPD-Geschichtsforums

Unter dem Titel „Im Rückspiegel“ beleuchten wechselnde Autor*innen des Geschichtsforums historische Ereignisse, die für die SPD bedeutend sind. Im Rückspiegel eines Autos sieht man bekanntlich nach hinten, aber wenn man ihn etwas kippt bzw. dreht, sieht man sich selbst. Um Vergangenheit und Gegenwart soll es in der Kolumne gehen.

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