Zeitenwende

Klingbeil: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“

Benedikt Dittrich21. Juni 2022
SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil sieht Deutschland in einer neuen Verantwortung.
SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil sieht Deutschland in einer neuen Verantwortung.
Hohe Erwartungen, große Herausforderungen, eine neue Realität: SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil sieht die Welt an der Schwelle zu einer neuen globalen Ordnung, einer globalen Zeitenwende. Deutschland sieht er dabei als wichtige Führungsmacht.

Einer der ersten historischen Vergleiche, den Lars Klingbeil in seiner Grundsatzrede zieht, ist der Fall der Mauer in Berlin. 11 Jahre alt war der Parteivorsitzende damals. „Der Kalte Krieg war vorbei“, sagt Klingbeil auf der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung. Es ist einer dieser Momente, die aus Sicht des Parteivorsitzenden einen epochalen Umbruch bedeuten. Genauso wie die Terroranschläge am 11. September 2001 auf die USA, als Klingbeil 23 Jahre alt war und die Anschläge vor Ort in New York miterlebte. Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist für Klingbeil ebenso ein solcher, historischer Moment.

(Zur kompletten Grundsatzrede von Lars Klingbeil im Wortlaut)

„Wir stehen vor einer riesigen Gestaltungsaufgabe“, sagt Klingbeil am Dienstag, der in seiner Grundsatzrede einige Grundpfeiler für eine neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus sozialdemokratischer Perspektive definiert. Allerdings: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. „Ich will diese Debatte“, erklärt er vielmehr zu Beginn seiner Rede, fordert Widerspruch ein.

Zeitenwende als Aufgabe für Jahrzehnte

Was der Parteivorsitzende aber für sich beansprucht: Die Zeitenwende, wie Bundeskanzler Olaf Scholz den Überfall Russlands auf die Ukraine definierte, ist auch für Klingbeil eine Zäsur. „Die Zeitenwende wird uns viel abverlangen“, zeigt sich der Sozialdemokrat überzeugt, „die Umbrüche haben Auswirkungen auf unser Zusammenleben und die politische Agenda für die nächsten Jahrzehnte“.

Klingbeil sieht die Welt gegenwärtig inmitten einer Vielzahl von Krisen: Neben dem Krieg zählt er außerdem den Klimawandel, die Pandemie, die gesellschaftliche Spaltung aber auch die Inflation und drohende Hungersnöte in der Welt als Beispiele auf. Krisen, die sich aus seiner Sicht gegenseitig verstärken und zusammenhängen. „Diese Krisen stellen uns vor grundlegende Fragen“, sagt Klingbeil. „Mein Anspruch als Parteivorsitzender ist, dass wir Antworten auf diese Fragen geben, dass wir die Zukunft gestalten und dass wir das gemeinsam tun.“ Anders als bei den von ihm zuvor aufgezählten historischen Momenten sei er nun 44 Jahre alt, trage Verantwortung als SPD-Vorsitzender.

Machtzentren als neue Weltordnung

„Am 24. Februar hatte ich noch keine Antworten“, gibt Klingbeil zu. Nun, knapp vier Monate später, allerdings schon: Klingbeil skizziert auf der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung eine neue Weltordnung, die sich aus seiner Sicht bildet. Eine Weltordnung, die auf Machtzentren basiert. Die attraktiv sind, denen sich Staaten aus eigenem Antrieb heraus anschließen. Eines dieser Machtzentren ist aus Sicht von Klingbeil Europa, an der Seite der USA, von Japan und Australien. „Unsere Aufgabe muss sein, dass wir das attraktivste Zentrum sind“, gibt Klingbeil als Motto für die kommenden Jahre aus – in Konkurrenz beispielsweise zu China und Russland.

Doch welche Rolle spielt Deutschland als einzelne Nation in dieser neuen Weltordnung? Aus Sicht des SPD-Chefs eine sehr bedeutende – was auch heute schon sichtbar ist: Deutschland habe sich in den vergangenen Jahrzehnten auf der internationalen Bühne großes Vertrauen erarbeitet. „Damit geht aber eine Erwartungshaltung einher“, ist Klingbeil überzeugt. „Deutschland steht immer im Mittelpunkt“, meint er mit Blick auf die Diskussionen der vergangenen Wochen. „Wir sollten diese Erwartungen erfüllen“, ist er überzeugt – und ist zuvor sehr deutlich: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“

Deutschland als Führungsmacht in Europa

Diese Führung will Klingbeil allerdings anders verstanden wissen als in der Vergangenheit: nicht „breitbeinig und rabiat“, sondern „kooperativ“. „Ein kooperativer Führunggsstil ist ein kluger Führungsstil“, sagt der Sozialdemokrat auch mit Verweis auf moderne Führungsstile in Unternehmen und Konzernen.

In den Mittelpunkt der von Klingbeil geforderten Debatte stellt der Sozialdemokrat selber an diesem Dienstag vor allem die Sicherheitspolitik. Die ist aus seiner Sicht auch wesentlich mehr als eine Debatte über die Ausstattung der Bundeswehr und das Sondervermögen. „Wir erleben gerade, was für enorme Kosten eine instabile internationale Ordnung, Krieg und unterbrochene Lieferketten für das Leben bei uns haben“, erklärt Klingbeil diese Perspektive, er sieht enorme Sprengkraft für die Gesellschaft auch vor Ort.

Allerdings: Als Sohn eines Soldaten und Verteidigungspolitiker wünscht sich Klingbeil auch eine neue Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft. „Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als Mittel der Politik zu sehen.“ Für ihn ist klar – erst Recht nach dem Überfall Putins auf die Ukraine: „Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg. Das Verschließen der Augen vor der Realität führt zum Krieg.“

Diese Sichtweise sieht Klingbeil außerdem im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und zwei SPD-Vordenkern: Willy Brandt und Helmut Schmidt: „Brandt und Schmidt haben verstanden, dass man nur aus eigener Stärke heraus für Frieden und Menschenrechte eintreten kann.“

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Kommentare

Bundeswehr Beschaffung

Man sollte die Hubschrauber überteuerten NH 90 und Eurocopter Tiger schnellstmöglich ausmustern! Norwegen, Belgien wollen dies auch tun. Australien schafft den Kampfhubschrauber Tiger ab und kauft dafür den amerikanischen Apache. Das gleiche sollten wir auch tun. Der Apache ist zwar auch schon älter, aber er funktioniert und hat bessere Bewaffnung als der Tiger.

Bundeswehr Beschaffung

Vielleicht sollte man auch mal das Beschaffungsamt auswechseln angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr so viele unbrauchbare Geräte hat?

Immerhin war in den letzten Jahren unter den CDU-Minister*innen der Wehretat mit rd. 50 Mrd. Euro gewaltig hoch.

Führungsanspruch

Mir wird da etwas flau in der Magengegend wenn ich das lese. Am deutschen Wesen ist Griechenland nicht zum Wohle der Menschen dort genesen. Zwar wir immer positiv über EUropa berichtet und das ist ja auchoffizielle Staats (SPD)raison, aber was viele Menschen in Europa von diesem EUropa halten wird nicht hintergragt - da bleibt man in seiner Blase.
Auch für mich gab es ein Zeitenwendeerlebnis: das was der 11. September (und zwar der 1973). Und damals gab es noch eine SPD Regierung, die eine eigenständige Energie- und Wirtschaftspolitik gemacht hat.

Nein, Deutschland muss nicht! Schon Helmut Schmidt war das klar!

Die wahnwitzige Einforderung einer Führungs (Führer?)-Rolle von Deutschland läßt den Blick auf unsere wenig „ruhmvolle“ Vergangenheit vermissen! Insbesondere, wo doch noch bei zu Vielen sich historisch rassistisches, imperialistisches, völkisches, demokratiefeindliches Erbgut herumtreibt! Scholz Mantra von „kein deutscher Alleingang“ ist daher richtig! Nicht mehr und nicht weniger!

Interessant ist eher, was Klingbeil hier nicht sagt

Erst wird von attraktiven Machtzentren im plural gesprochen, dann aber alternativlos nur der Nato-Block erwähnt. Welche Rolle spielt die Attraktivität, wenn die Alternative nicht einmal zur Diskussion steht?

Die Zeitenwende sollte antworten eines Parteivorsitzenden verlangen, die man hier vergebens sucht. Ohne Antworten bleibt die Zeitenwende doch nur eine Zäsur. Auch hier bleibt das Interessante ausgespart.

Deutschlands proklamierter Führungsanspruch lässt die Frage der Richtung und Ziele offen. Wo ist der Unterschied zu bloßem Dominanzgebahren?

Inhaltlich wird nur die Beschaffungsoffensive für die Bundeswehr und Krieg als Mittel der Politik erwähnt. Beide Punkte sind ebenso banal wie altbekannt und bar sozialdemokratischer Handschrift.

Die Öffnung der Augen vor der Realität lässt offen, welche Realität bisher verweigert wurde. Die Abhängigkeit von russischem oder von amerikanischem Gas? Vor der Ernährungskrise oder vor dem eigenen Beitrag zu dieser?

Am Ende scheint mir die Anlehnung an Brandt und Schmidt dann doch zu hoch gegriffen.

„... militärische Gewalt als Mittel der Politik“

In Klingbeils „neuer Weltordnung, ... die auf Machtzentren basiert“ – da werden die USA aufhorchen, denn die halten ja noch an „ihrer globalen Vormachtstellung“ (Zellner) fest, drängen darum auf eine starke Nato-Präsenz im Südchinesischen Meer (Stoltenberg), um so China einzuhegen -, „spielt Deutschland ... eine sehr bedeutende (Rolle)“ . Darum nimmt er sich und uns in die Pflicht: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“ Schon allein deshalb, weil andere, z. B. Polen, die Balten und die Ukraine das erwarten. (Was diese Länder damit genau meinen, will ich gar nicht aufschlüsseln.) Für Klingbeil ist damit klar, die neue Führungsmacht Deutschland braucht eine neue Sicherheitspolitik. Deren zentraler Grundsatz ist, „Friedenspolitik ... (muss) auch militärische Gewalt als Mittel der Politik sehen“ - wie schon „Brandt und Schmidt verstanden haben“. (Auf Brandt sich zu berufen, ist immer gut, so absurd der Bezug auch sein mag.)

„... militärische Gewalt als Mittel der Politik“_2

Natürlich erklärt Klingbeil nicht, was sein Bellizismus international anderes bewirken will, als ohne ihn schon erreicht worden ist, nämlich „Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf der internationalen Bühne großes Vertrauen erarbeitet“. Es ist doch intellektuell und realiter abenteuerlich anzunehmen, ein mit mehr „militärischer Gewalt“ ausgestattetes Deutschland (immerhin jährlich 40 Mrd. für die Bundeswehr.), Europa könnte mit Indien, China, Südafrika, Saud-Arabien, Iran oder Brasilien anders umgehen, als bisher. Und ernsthaft zu glauben, der Krieg um die Ukraine hätte verhindert werden können, wenn Deutschland, die EU mehr „militärische Gewalt“ ausgestrahlt hätten, ist Selbstsuggestion. Darum kann Klingbeil auch nur mit Sprüchen aus dem bellizistischen Poesie-Album aufwarten: „Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg. Das Verschließen der Augen vor der Realität führt zum Krieg.“

„... militärische Gewalt als Mittel der Politik“_3

Klingbeil bedient mit seiner neuen Sicherheitspolitik nur den „Mythos der erlösenden Gewalt“, ein „Denk- und Handlungsmuster der Kriegslogik“ (Vorwärts/Angelika Claußen). Er sollte sich vielleicht mal mit der Realität des Afghanistan-Krieges, mit der des Krieges im Jemen, den Ergebnissen des Libyen-Krieges aber auch mit unseren Sanktionen gegen die Russische Föderation beschäftigen, die inzwischen „Züge eines indirekt geführten Welt(wirtschafts)kriegs“ (W. Zellner/Blätter 6´22) angenommen haben. (Lindner: „drei bis vier, vielleicht fünf Jahre der Knappheit“; und da ist die ganze Katastrophe eines kompletten Gasstopps noch gar nicht „eingepreist“, geschweige denn die Folgen für arme Länder.)

Weitaus bedeutsamer wäre zudem, wenn Klingbeil Sicherheitspolitik zusammen mit dem Klimawandel begreifen würde. (Immerhin hat er in seiner Anregung Klimawandel und Pandemie auch erwähnt.)

Gegenstimmen

Warum wird hier einseitig die Position von Lars Klingbeil publiziert und Gegenpositionen von Jessica Rosenthal (JuSos, MdB) oder Sebastian Roloff (DL21, MdB) fallen "unter den Tisch" ? Zu einer demokratischen Partei gehört auch eine demokratische Diskussion und die Abbildung des pluralen Meinungsbildes.

Rede

Weil der Text die Zusammenfassung der Rede ist, die Lars Klingbeil am Dienstag gehalten hat.