Interview mit Jörg Böckem

Drogen: Warum verteufeln nichts bringt

Farnaz Nasiriamini07. August 2015
"Sniefen" (nasaler Drogengebrauch) kommt beim Speed, Ketamin oder Kokain vor.
"Sniefen" (nasaler Drogengebrauch) kommt beim Speed, Ketamin oder Kokain vor. Durch einen zusammengerollten Geldschein wird die Substanz meistens durch die Nase gezogen.
Jörg Böckem
Jörg Böckem
"Drogen nehmen kann, bei allen Gefahren und Risiken, natürlich auch toll sein", sagt der Autor und Journalist Jörg Böckem. Er hat ein Aufklärungsbuch geschrieben, welches das Thema Drogen differenziert betrachtet. Im Interview erklärt Böckem, warum das wichtig ist.

Herr Böckem, es gibt viele Aufklärungsbücher über Drogen – Was macht Ihr Buch „High Sein“ besonders?

Unserer Auffassung nach – ich habe das Buch zusammen mit Henrik Jungaberle geschrieben, einem Wissenschaftler, der seit mehr als zehn Jahren den Substanzkonsum bei jungen Menschen erforscht – gibt es ein Aufklärungsbuch wie wir es geschrieben haben bisher nicht. Was wir versucht haben ist das ganze Themenfeld – psychoaktive Substanzen, Rausch und Sucht – umfassend darzustellen und zwar ohne erhobenen Zeigefinger, aber auch ohne zu verharmlosen oder zu verherrlichen. Wir wollen, dass jeder Leser nach der Lektüre ein gutes Bild von den verschiedenen Substanzen hat. Von ihren Wirkungen, von ihren Risiken und von ihren Schäden, um mithilfe dieses Wissens eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Wir sagen niemanden: Finger weg, alles böse und schlecht. Wir sagen aber auch niemandem: total geil, mach mal.

Glauben Sie, dass man das Thema Drogen wirklich neutral betrachten kann?

Naja, dass es geht zeigt ja unser Buch. Es basiert auf wissenschaftlichen Studien und auch auf der Arbeit von Henrik Jungaberle, der eine der größten Studien über Substanzkonsum europaweit geleitet hat. Es ist nicht so, dass wir das, was im Buch steht, einfach behaupten. Wie aber jemand auf das Buch reagiert, haben wir natürlich nicht in der Hand. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass sich die meisten Menschen ihr Leben nicht mit Drogen ruinieren möchten. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass viele Leser von dem Buch profitieren werden. Übrigens auch Menschen, die gar keine Drogen nehmen.

Sie gehen locker mit dem Thema um. Liegt es daran, dass sie als ehemaliger Heroinabhängiger selbst Drogenerfahrungen haben?

Ich denke schon, dass meine Erfahrungen eine sehr wichtige Vorraussetzung für dieses Buch waren. Das Verteufeln von Drogen bringt nichts. Ich bin in der Generation „Erhobener Zeigefinger“ und „Drogen sind böse“ aufgewachsen. Die jungen Menschen in meinem Umfeld hat das damals überhaupt nicht interessiert. Im Gegenteil, es hat sie neugieriger gemacht. Abschreckung bringt nichts. Das haben die letzten Jahrzehnte bewiesen.

Tipps für den positiven Gebrauch von Drogen zu geben ist also besser als vor dem Konsum zu warnen?

Ja, vor allem wenn so undifferenziert gewarnt wird: Alles ist Einstiegdroge und dann nimmt man Heroin und landet in der Gosse. Das Problem ist, dass man einem jungen Menschen, der gerade seine ersten Substanzerfahrungen macht, nicht sagen kann: „Nene, du vertust dich. Das ist nicht klasse. Das ist böse.“ Da hört doch keiner zu! Deshalb haben wir uns gesagt: Wir müssen dem Leser auf Augenhöhe begegnen, ihn da abholen wo er steht. Aber wir schreiben natürlich nicht nur für diejenigen, die Substanzerfahrungen haben, sondern auch für Menschen, die sich für das Thema interessieren. Oder im Idealfall für Menschen, die sich informieren wollen, bevor sie sich für oder eben auch gegen eine Substanzerfahrung entscheien. Wie gesagt, wir wollen niemanden zum Konsum animieren.

Hat sich die Bewertung von Drogen in den letzten Jahren gesellschaftlich verändert?

Allein schon die Diskussion über die Cannabislegalisierung zeigt ja, dass etwas in Bewegung geraten ist. Eine Diskussion, die wir unterstützen möchten. Die Cannabisdebatte zeigt aber auch, wo die Probleme liegen. Die Diskussion läuft momentan noch sehr polarisiert und wird getragen von politischen Überzeugungen, Ideologien und diffusen Moralbildern. Wir möchten aber, dass auf einer Sachebene diskutiert wird. Da es immer Menschen gibt, die unterschiedliche Substanzen nutzen möchten, wollen wir dazu beitragen, dass sie wissen, wie sie mögliche Schäden vermeiden oder reduzieren können. Die Schadensminimierung ist einer der wichtigsten Prinzipien in der Suchtprävention. Ihr fühlen wir uns verpflichtet.

In Ihrem Buch gibt es viele Erfahrungsberichte. Glauben Sie, dass Erfahrungsberichte die eigene Erfahrung mit Drogen ersetzen können?

Naja, ich denke Menschen lernen auf unterschiedlicher Weise. Auch durch Vorbilder und Beispiele. Wir stellen Erfahrungsberichte von jungen Drogen-Konsumenten vor, um die grundsätzlichen Aussagen unseres Buches zu verdeutlich. Die Beispiele machen klar: Okay, bei dem einen funktioniert es. Und der andere ist im Knast gelandet. Was hat er anders gemacht? Zwei Leute können scheinbar am selben Punkt starten und danach komplett verschiedene Wege gehen. Da können sich die Leser fragen: Welchen Weg möchte ich gehen, damit ich nicht im Knast oder in der Therapie lande?

Wenn es früher so ein Aufklärungsbuch gegeben hätte wie Sie es geschrieben haben: Glauben Sie, das hätte Ihnen persönlich bei Ihrer Drogensucht geholfen?

Ich finde es schwierig zu spekulieren. Aber ich glaube, ich hätte mich gefreut, wenn es so ein Buch gegeben hätte. Ich weiß nämlich noch, dass es mich wahnsinnig gemacht hat, dass alle Menschen, die erzieherisch auf mich einwirken wollten, nicht in der Lage oder bereit waren, auf Augenhöhe mit mir zu reden. Es hieß immer: Das was du tust ist schlecht und dumm und wir wissen was gut für dich ist und was du tun musst. Es gab nie den Ansatz zu sagen: Okay, ich verstehe was du tust. Ich habe verstanden, dass du dich entschieden hast Drogen zu nehmen weil es auch positive Seiten hat. Wir sagen in unserem Buch: Deine Entscheidung Drogen zu nehmen ist ebenso nachvollziehbar wie die Entscheidung dagegen. Aber informiere dich über die Risiken, Nebenwirkungen und Konsequenzen und ziehe daraus möglichst vernünftige Schlüsse für deinen Konsum.

Sie geben in dem Kapitel „Umgangsregeln“ Ratschläge wie man mit Betroffenen Freunden oder Kollegen umgehen sollte, die Drogen nehmen.

Ja, das ist uns auch sehr wichtig. Henrik Jungaberle gibt als Präventionspraktiker Schulungen und ich bin durch meine Lesungen auch oft in Schulen unterwegs. Da werde ich immer wieder gefragt, wie man mit Betroffenen umgehen sollte. Ab wann ist der Drogenkonsum zu viel? Was soll ich dagegen machen? Das ist ja emotional ein hoch besetztes Thema. Viele können das ja gar nicht einschätzen. Manche fragen sich: Mein Freund kifft alle zwei Wochen am Wochenende. Ist er jetzt drogensüchtig? Dafür müssen sich Umgangsregeln und Sprachregeln entwickeln. Wie redet man miteinander, wenn man an zwei verschieden Punkten steht?

Kommt Ihr Buch an Schulen an?

Ich hoffe es. Die Schüler, mit denen ich bisher darüber geredet habe, finden das Buch gut. Sie nehmen es auch gut an. Ich biete nach Lesungen immer eine Diskussion an und bin immer wieder beeindruckt, wie interessiert die Schüler sind. Manchmal habe ich allerdings den Eindruckt, dass der eine oder andere Lehrer überfordert ist. Ich bin das abschreckende Beispiel. Ich bin heroinsüchtig gewesen und habe fast mein Leben und alles andere deswegen verloren. Manche erwarten, ich würde deshalb sagen: Finger weg von allen Drogen! Ich betrachte das Ganze aber differenziert und sage: Drogen nehmen kann, bei allen Gefahren und Risiken, natürlich auch toll sein. Ich kann verstehen, wenn sich ein junger Mensch entscheidet, zu kiffen oder Ecstasy zu nehmen. Wichtig ist, wie man mit den Substanzen umgeht um das, was ich erleben musste, zu vermeiden. Manche Lehrer schreckt das ab, so ein Umgang mit dem Thema macht mehr Mühe als eine grundsätzliche Verteufelung. Viele kommen damit aber auch sehr gut klar. Da hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, auch an den Schulen. 

Aufklärungsbuch "High Sein"

Buchcover von "High Sein"
Drogen sind böse. Wer Drogen nimmt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Das ist das Bild, das normalerweise über Drogen vermittelt wird. Das Aufklärungsbuch „High Sein“ versucht, eine differenziertere Sicht auf Drogen zu vermitteln. Jörg Böckem und Henrik Jungaberle zeigen in 15 Kapiteln, welche Drogen es gibt, wie sie chemisch aufgebaut sind und wie sie im Körper wirken – allein, aber auch mit anderen Drogen zusammen. Dabei ist nach Analyse der beiden Autoren Alkohol die gefährlichste Droge, gefolgt von Heroin und Crack. Tabak kommt an sechster Stelle.

Böckem und Jungaberle erklären, dass der Konsum von Drogen den Konsumenten sowohl in die Psychiatrie als auch in die Therapie bringen kann. In „High Sein“ geben sie Ratschläge zur Einschätzung der eignen „Risikogruppe“ und „Tipps für den positiven Gebrauch“ von Drogen. Sie behandeln auch Themen wie das „Letzte Mal“ Drogen zu nehmen und den Umgang mit Drogen auf Partys und Festivals.

Es geht außerdem um Drogendealer im Internet, Gesetze und Politik und auch um die Drogeneinnahme für die Leistungssteigerung in Beruf oder Sport. Umrandet werden die einzelnen Kapitel von persönlichen Erfahrungsberichten von Jugendlichen. „High Sein“ ist ein kompaktes Aufklärungsbuch, das umfänglich über Drogen informiert und Raum zur eigenen Meinungsbildung zum Thema Drogen eröffnet.

Jörg Böckem, Henrik Jungaberle: High Sein – Ein Aufklärungsbuch, Rogner & Bernhard Verlag 2015, ISBN 978-3-95403-086-6, 22,95 Euro

Gebt das Hanf frei!?
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