OV-Porträt

Wie eine Berliner SPD-Abteilung die Erinnerung an Otto Wels bewahrt

Kai Doering24. März 2023
Sabine Smentek und Volker Erbe von der SPD Bellevue: „Es wird heute viel zu wenig gewürdigt, welches Risiko Otto Wels damals eingegangen ist“
Sabine Smentek und Volker Erbe von der SPD Bellevue: „Es wird heute viel zu wenig gewürdigt, welches Risiko Otto Wels damals eingegangen ist“
„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Am 23. März 1933 hielt Otto Wels seine berühmt gewordene Rede gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis. Eine Berliner SPD-Abteilung erinnert daran jedes Jahr.

Sabine Smentek hat schon eine Menge Reden in ihrem politischen Leben gehalten. An eine erinnert sie sich aber besonders. Dabei stammte die nicht mal von ihr. „Es schüttete in Strömen, und ich war froh, dass das Manuskript in einer Klarsichtfolie steckte“, erzählt Smentek.

Die Rede, die Sabine Smentek damals hielt, ist eine der berühmtesten in der deutschen Geschichte, der Satz „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ ist auch weit über die SPD hinaus bekannt. Der SPD-Vorsitzende Otto Wels sagte ihn in seiner Antwort auf das sogenannte Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten am 23. März 1933. Das Parlament wurde damit faktisch abgeschafft. Viele SPD-Abgeordnete wurden nach der Reichstagssitzung verhaftet oder flohen ins Exil.

Kühnert wird die Rede verlesen

„Ich kannte den Namen Otto Wels gar nicht, bevor ich Mitglied dieser Abteilung wurde“, gesteht Sabine Smentek. Abteilungen heißen in Berlin die SPD-Ortsvereine. Die von Sabine Smentek heißt „Bellevue“, benannt nach dem Amtssitz des Bundespräsidenten, der sich im Abteilungsgebiet befindet. Ein paar Hundert Meter davon entfernt ist der Ort, an dem Otto Wels seine berühmte Rede hielt: die Stelle, an der damals die Kroll-Oper stand, in die das Parlament nach dem Brand des Reichstagsgebäudes im Februar 1933 umgezogen war. Heute ist dort eine Freifläche. Ein paar Meter weiter beginnen die Außenmauern des Kanzleramtes.

Wo die Oper stand, erinnert die Abteilung „Bellevue“ jährlich am 23. März an Wels und seine Rede. „Seit 2008 hat das Gedenken jedes Jahr stattgefunden, unterbrochen nur 2020 und 2021 wegen Corona“, sagt Smentek Der Ablauf ist immer ähnlich: Zuerst gibt es eine historische Einordnung, dann verliest jemand die Rede. Seit einigen Jahren spielt auch ein Abteilungsmitglied Trompete. „In diesem Jahr wird Kevin Kühnert die Wels-Rede vorlesen“, berichtet Volker Erbe. Er hat für die Veranstaltung „den Hut auf“, organisiert ein Rednerpult und die nötige Stromversorgung.

„Es wird heute viel zu wenig gewürdigt, welches Risiko Otto Wels damals eingegangen ist“, findet Erbe. Die Erinnerung an seine Rede sei auch „eine Erinnerung daran, dass es nicht selbstverständlich ist, einfach seine Meinung sagen zu können“. Die Wels-Worte seien ohnehin hochaktuell, „gerade in einer Zeit, in der die alten Dämonen wieder hochkommen“. Volker Erbe ist 2018 in die SPD eingetreten, nachdem die AfD im Jahr zuvor erstmals in den Bundestag eingezogen war. „Ich wollte mich nicht nur am Stammtisch aufregen, sondern etwas tun“, sagt Erbe. Seit dem vergangenen Jahr ist er stellvertretender Abteilungsvorsitzender.

Engagiert im Wahlkampf

Damals wurde auch Sabine Smentek gewählt. Sie führt die Abteilung seitdem in einer Doppelspitze. „Wir sind beide sehr verschieden und können so gut unterschiedliche Gruppen ansprechen“, sagt sie über sich und ihren Co-Vorsitzenden. Bisher war natürlich vor allem Wahlkampf angesagt. Am 12. Februar wurde in Berlin die Abgeordnetenhauswahl vom September 2021 wiederholt. „Der Wahlkampf ist über uns gekommen“, sagt Sabine Smentek. Innerhalb kürzester Zeit mussten Infostände und Tür-zu-Tür-Aktionen organisiert werden. In den ersten Januar-Tagen wurde plakatiert. „Ich war fast ein bisschen überrascht, wie motiviert unsere Mitglieder sind und wie viele im Wahlkampf dabei sind“, sagt Smentek. Vieles organisieren die Aktiven über den Messenger-Dienst „Signal“. „Da müssen wir natürlich aufpassen, dass wir gerade ältere Mitglieder nicht abhängen“, sagt Smentek.

Einige geplante Vorhaben mussten für den Wahlkampf erst mal auf Eis gelegt werden, ein Neumitglieder-Flyer etwa, der fast fertig ist. Am 1. Mai, dem „Tag der Arbeit“, soll es auch wieder ein Picknick im Tiergarten geben. „Letztes Jahr haben wir da den Leuten eine Boulette und ein Bier in die Hand gedrückt und sind super ins Gespräch gekommen“, erinnert sich Volker Erbe. Und im Frühjahr wird sich die Abteilung auch um die Bepflanzung ihres Kiezgartens kümmern, den sie am S-Bahnhof Bellevue angelegt hat. „Dabei dürfen wir nie vergessen, dass wir alles ehrenamtlich machen“, sagt Sabine Smentek. Deshalb gelte in der Abteilung: „Alles kann, nichts muss.“ 

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