
Pünktlich zum 50. Jahrestags des zivilen und Militärputsches und des Todes des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende im von den Putschisten bombardierten Präsidentenpalast La Moneda am 11. September 1973, veröffentlicht der Journalist Günther Wessel sein Buch „Salvador Allende – eine chilenische Geschichte“. Wessel bringt uns nicht nur die Person Salvador Allendes näher, denn „in der Biographie Salvador Allendes und seiner Familie spiegelt sich die Geschichte Chiles, des schmalen Landes zwischen Andengipfeln und Pazifik“.
Die chilenische Community weltweit mobilisiert
Weltweit fanden um den Jahrestag herum Veranstaltungen statt, die an die tragischen Ereignisse und an das politische Erbe Allendes erinnerten. Im Willy-Brandt Haus wurde die Fotoausstellung „Chile im Umbruch – 50 Jahre danach“ gezeigt und der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil traf die Tochter und Verwalterin des politischen Erbes, Isabel Allende, am Grab von Willy Brandt. Die chilenische Community war weltweit stark mobilisiert und vielen wurde erst jetzt hier wieder bewusst, dass es in Berlin-Köpenick ein Allende-Viertel gibt mit Erinnerungssteelen an Allende und den Dichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda, der von den Putschisten ermordert wurde.
Den Einstieg in Wessels Buch liefert das erste Kapitel, das sich mit den dramatischen letzten Stunden in La Moneda befasst, dem Zeitraum zwischen der Aufforderung der Putschisten um 8:15 Uhr zurückzutreten, Allendes berühmte letzte Rundfunkrede und gegen Mittag die Aufforderung an seine Personenschützer die unter Beschuss stehende Moneda zu verlassen.
Dieses Jahr wurden die Opfer unter ihnen mit einer von der früheren Präsidentin Bachelet eingeweihten Steele am Seiteneingang der Moneda gewürdigt, was für die Überlebenden unter ihnen und die Angehörigen eine emotionale, späte Würdigung darstellte.
Allende war vor allem eins: Demokrat
Die Frage, warum Allende den Freitod gewählt hat und die Aufforderungen der radikalen Linken aktiv bewaffneten Widerstand zu leisten, zurückwies, wird im Buch erwähnt. Es war Gegenstand vieler politischer Diskussionen in Chile um den diesjährigen 11. September herum. Gegen die reaktionäre Geschichtsklitterung der politischen Rechten sind sich die progressiven Kräfte in Chile einig, dass der Sozialist Allende mit seiner Entscheidung einen Bürgerkrieg verhindern und die Demokratie mit moralischen und instutionellen Mittel verteidigen wollte. Insofern wird deutlich, dass Allende vor allem eins war: Demokrat.
Günther Wessel schildert in den verschiedenen Kapitel die Familien- und Personengeschichte Allendes im Spiegel der Entwicklung Chiles, bringt uns Salavador Allende als Politiker und Familienvater näher. Ähnlich wie Francois Mittérand bedurfte es mehrer Anläufe, bis der Arzt Salvador Allende 1971 vom Parlament zum Präsidenten gewählt wird.
Durch die von den USA freigegebenen CIA-Dokumente haben wir nun die offizielle Bestätigung, dass die USA von Anfang an alles unternahmen, um Allendes Regierung in Schwierigkeiten zu bringen und zu beseitigen.
Noch heute leidet Chile unter dem Neo-Liberalismus
Häufig wird als Argument vorgebracht, die USA wollten ein zweites Kuba verhindern, aber war es nicht eher so, dass die Sprengkraft der Allende-Regierung im demokratischen und friedlichen Weg zum Sozialismus lag und die USA darin die wirkliche Bedrohung sahen? Wie sähe Lateinamerika, wie sähe die Welt heute aus, wenn Allende erfolgreich gewesen wäre?
Und die Bedeutung des Putsches geht weit über Chile hinaus, denn der Diktator eröffnete Milton Friedman und seinen „Chicago-Boys“ die Möglichkeit, ihre ökonomischen Glaubensätze in einem quasi Laboratorium anzuwenden.
Noch heute leidet das Land unter den Kosequenzen des brutalen Neo-Liberalismus mit seinen Privatisierungsprogrammen und den unkontrollierten Märkten, die das Privateigentum einseitig schützen und die Oligarchen unangetastet lassen. Für soziale und umweltpolitische Verantwortung ist da kein Platz und dies hatte 2019 zu massiven sozialen Bewegungen geführt. Selbst die sozialdemokratischen Regierungen Lagos und Bachelet konnten keine grundsätzlichen Umwälzungen durchführen. Ebenso hat der jetzige Präsident Boric nur begrenzten Spielraum angesicht fehlender politischer Mehrheiten in Parlament und Senat.
Umfassende und umfangreiche Dokumentation
Günther Wessel hat viele Mitstreiter*innen und Zeitzeug*innen Allendes interviewt und daraus entsteht eine sehr umfassende und umfangreiche Dokumentation. Natürlich spielen nicht nur die Greuel der Diktatur eine Rolle, sondern auch die internationale Solidarität, in der Allendes Frau Tencha Allende Bussi eine treibende und mutige Kraft war, die es zu würdigen gilt.
Der Weg in die Demokratie wäre ohne die internationale Solidarität progressiver und demokratischen Regierungen und ohne den Widerstand der sozialen Bewegungen aus Gewerkschaften und Zivilgesellschaft, ohne die mutigen Frauen und Männer in der katholischen Basiskirche nicht denkbar gewesen. Heute ist Chile eine stabile insitutionelle Demokratie, in der es aber an demokratischen Defiziten und sozialen Ungleichheiten nicht mangelt. Die politische Spaltung ist nicht überwunden, sondern prägt die politische Landschaft in Chile weiterhin.
Sozialist oder Sozialdemokrat?
Wessel bringt uns nicht nur die Person Allendes näher, sondern vermittelt die Besonderheit des Landes zwischen Traumata und den Erfahrungen der Solidarität, des gegenseitigen Zusammenstehens und der zahlreichen unbekannten und namenlosen Held*innen.
Trotz alledem lebt die Zuversicht in die möglichen positiven Veränderungen, die nur durch demokratische Mehrheiten errungen werden können. So schließt sich unausgesprochen der Kreis zum Reformismus der Sozialdemokratie. Allende – Sozialist oder Sozialdemokrat? Für mich beides!
Wessels Buch ist mehr als ein Geschichtsbuch, es bietet historische Einordnung, es ist faszinierend zu lesen, nicht nur für meine Generation, für die der Putsch am 11. September 1973 einen Auslöser für den Einstieg in politisches Engagement darstellte.
Günther Wessel: Salvador Allende. Eine chilenische Geschichte, Ch. Links Verlag 2023, ISBN 978-3-96289-196-1, 25 Euro
Kommentare
Allende: Sozialist oder Sozialdemokrat ?
Die Überschrift dieses Artikels als Frage ist für mich als 1953 Geborener, nunmehr 70-jähriger, der Generation
' Willy wählen - Mehr Demokratie wagen '
Angehörender, eine Tautologie der besonderen Art.
Sollten nicht alle Sozialdemokraten Demokratische Sozialisten sein ?!
Der Begriff Demokratischer Sozialist ist für mich eine Ehrenbezeichnung!
Der Buchautor Wessels gibt am Ende dieses Artikels sich selbst die Antwort in - gewisser Weise - : "Für mich beides!"