Zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN-Agenda 2030 zählt die Gleichstellung der Geschlechter. Wie sieht ihre aktuelle Bestandsaufnahme als Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus?
Von einer Gleichstellung der Geschlechter, die diesen Namen wirklich verdient, ist die Weltgemeinschaft noch weit entfernt. Die Zahlen sprechen jedenfalls eine klare Sprache: So sind weltweit im Durchschnitt nur 26,1 Prozent Frauen in nationalen Parlamenten vertreten. Jede dritte Frau erfährt zumindest einmal im Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt, in manchen Regionen sind es bis zu 70 Prozent. Etwa 200 Mio. Mädchen und Frauen sind von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen, jährlich sind etwa 4 Mio. weitere Mädchen davon bedroht. Rund 130 Mio. Mädchen wird das Menschenrecht auf Bildung verwehrt. Weltweit sind nur 13,8 Prozent aller Landbesitzenden Frauen, obwohl sie den Großteil der Beschäftigten im Bereich Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei ausmachen. Frauen verrichten ca. 75 Prozent der unbezahlten Pflege- und Hausarbeit.
Wenn wir im bisherigen Tempo weitermachen, dauert es (laut Global Gender Gap Report) noch mehr als 135 Jahre, bis Geschlechtergleichstellung erreicht ist. Mir dauert das entschieden zu lange. Darum werde ich in der Entwicklungspolitik einen Schwerpunkt legen auf „feministische Entwicklungspolitik“, die die Überwindung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten zum Ziel hat.
Wieso ist Gleichstellung eine Grundvoraussetzung, um Armut und Hunger in der Welt zu bekämpfen?
Die Hälfte der Weltbevölkerung ist weiblich. Gleichstellung ist ein Menschenrecht. Das klar zu stellen und Bewusstsein hierfür zu schaffen, bleibt eine fortwährende Aufgabe. Hinzu kommt: Wenn Frauen Zugang zu Bildung, Gesundheit, produktiven Ressourcen haben, tut das der Entwicklung der ganzen Gesellschaft gut. Es hat positive Wirkung auf Bildung, Gesundheit und die wirtschaftliche Situation der Familien, die Kommunen vor Ort und die Volkswirtschaft als Ganzes. Denn Frauen spielen als wichtige Wissensträgerinnen und Akteurinnen in der Energienutzung, im Management natürlicher Ressourcen und in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Die Mehrzahl der Kleinbäuer*innen, Markthändler*innen und Nahrungsproduzent*innen in unseren Partnerländern sind weiblich. Es liegt sehr oft in den Händen der Frauen, für die Ernten, die Verarbeitung der Produkte sowie eine ausreichende und gesunde Ernährung zu sorgen. Wir brauchen daher die Frauen, um Agrar- und Ernährungssysteme solidarischer, nachhaltiger und gerechter zu gestalten. Sie können den erforderlichen Wandel vorantreiben und profitieren zugleich von ihm. Frauenrechte und Gleichberechtigung sind deshalb Schlüssel im Kampf gegen Hunger und Armut.
Ihr Ziel ist eine feministische Entwicklungspolitik. Wie lässt sich das erreichen?
Wir wollen bei unseren Projekten immer auch darauf achten, Frauen gezielt zu fördern oder mindestens gleichberechtigt einzubinden. Darüber hinaus werden wir dafür werben und Bewusstsein dafür schaffen, dass es einer Gesellschaft insgesamt nutzt, wenn Frauen einbezogen, ihre Ansichten respektiert werden, sie gleichberechtigt repräsentiert sind und es gelingt, Ressourcen in diese Richtung zu lenken.
Feministische Entwicklungspolitik bedeutet auch, dass wir in unseren Projekten zunehmend transformativ arbeiten. Das heißt, dass wir zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern vor Ort versuchen, die Machtstrukturen und sozialen Normen zu verändern, die den Benachteiligungen und Ungleichheiten zugrunde liegen. Denn Geschlechterungleichheit ist kein Zufallsprodukt, sondern die Folge von patriarchalen Machtstrukturen, Normen und Rollenbildern.
Wir wollen das in breiten Allianzen erreichen, zusammen mit multilateralen Organisationen, aber auch mit der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, darunter Frauenrechtsorganisationen und Vertretungen von LSBTIQ+, die ich stärker einbeziehen will. In unseren Partnerländern haben sie oft die größte Expertise und den besten Zugang zu benachteiligten Personen und Gruppen.
Sie wollen neue Schwerpunkte in der feministischen Entwicklungspolitik setzen? Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Wenn es um die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, um die Überwindung von Hunger und Armut, den Kampf gegen die Klimakrise oder eine sozial gerechte globale Energiewende geht, ist feministische Entwicklungspolitik immer eine Querschnittsaufgabe, die sich wie ein roter Faden durch alle Themen zieht. Ich bin überzeugt, dass sie in erheblichem Maße dazu beiträgt, starke, stabile und krisenfeste Gesellschaften und Volkswirtschaften zu schaffen. Mein Ziel ist die gleiche politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe aller Menschen – unabhängig von Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, Behinderung oder Herkunft.
Sie nennen Kanada als Vorbild in der Entwicklungspolitik. Was wollen Sie möglichst schnell auf den Weg bringen?
Kanada verfolgt als erstes Land weltweit seit 2017 eine feministische Politik der internationalen Zusammenarbeit. Kanada hat diese Strategie in einem inklusiven Prozess unter Beteiligung der Zivilgesellschaft entwickelt und inzwischen sehr erfolgreich in seiner internationalen Zusammenarbeit verankert. Das ist vorbildlich. Wir werden als ersten Schritt die deutsche G7-Präsidentschaft nutzen, größere Hebel für eine nachhaltigere, geschlechtergerechtere Welt zu bewegen. So werden wir uns speziell für eine bessere Finanzierung von Projekten der Geschlechtergleichstellung einsetzen, konkret etwa im Bereich der bezahlten und unbezahlten Sorge- und Pflegearbeit als wichtigen Hebel für Gleichstellung oder durch stärkere Berücksichtigung von LSBTI-Inklusion oder bei der Mütter-Kind-Gesundheit und Mädchenbildung. Investitionen in eine starke Gleichstellung sind Investitionen in eine gute Zukunft.