Seit Putins Angriffskrieg liegen nicht nur große Teile der Ukraine in Trümmern sondern auch die deutsche Russlandpolitik. Alte Gewissheiten und Grundsätze der sozialdemokratischen Ostpolitik gelten nicht mehr. Mit dramatischen, ja historischen Folgen.
So hat Bundeskanzler Olaf Scholz unmittelbar nach dem russischen Angriff am 24. Februar eine „Zeitenwende“ verkündet und damit eine grundlegende Kurskorrektur der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat in einer viel beachteten Grundsatzrede eine kritische Aufarbeitung und eine Neuausrichtung der sozialdemokratischen Außenpolitik skizziert.
Thierse: Putin verhöhnt alle Werte Brandts
Kein Wunder, dass nun auch die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung darüber diskutiert. Am Montag Abend trafen sich deshalb in Berlin Wissenschaftler*innen, Russland-Expert*innen und Politiker*innen, um über „das (wieder) umstrittene Erbe von Willy Brandts Ostpolitik“ zu diskutieren, so der Titel der Veranstaltung.
„Keiner von uns, vermute ich, wird den 24. Februar dieses Jahres jemals vergessen“, sagt der Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse in seiner Begrüßung. Das Datum markiere einen tiefen Einschnitt. Es habe die Hoffnungen beendet, Europa könne ein Kontinent des Friedens sein und bleiben. Durch „die scheinbar grenzenlose Brutalität Putins“, so Thierse, „mit dieser verbrecherischen Aggression werden alle Werte und Normen verletzt und verhöhnt, für die Willy Brandt gestanden hat: Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität der Staaten, Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Menschenrechte“.
Fehler der Russlandpolitik seit 20 Jahren
Die Kritik an der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sei gegenwärtig laut und heftig. Dabei gebe es auch Stimmen, die in Willy Brandts Ostpolitik „die eigentliche Ursache für Irrtümer und Fehler der deutschen Russlandpolitik der letzten 20 Jahre sehen“. Thierse bezieht hier klar Position: „Diese Kritik befremdet mich schon.“ Es habe lange einen Konsens gegeben, dass die Ostpolitik nicht nur den Frieden in Europa sicherer gemacht, sondern auf lange Sicht auch den Weg zur Deutschen Einheit geebnet habe. „Soll das wirklich ein historischer Irrweg gewesen sein?“
Auf diese Frage gibt Wolfgang Schmidt von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in seinem historischen Rückblick – „ohne unkritisch zu sein“ – eine klare Antwort: „Brandts Ost- und Deutschlandpolitik war gewiss kein Irrweg, sondern überaus erfolgreich.“ Sie habe das Leben von Millionen Menschen in der Zeit der deutschen Teilung erleichtert und dadurch den Zusammenhalt der deutschen Nation erhalten. „Durch ihren Beitrag zum Frieden und zur Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas entstand auch dort Vertrauen in die Bundesrepublik und somit ein neues Deutschlandbild“, so Schmidt. Dies sei ein zentraler Baustein gewesen für die deutsche Wiedervereinigung 1990 unter Zustimmung aller Nachbarstaaten einschließlich der damaligen Sowjetunion.
„Fast eine Art Geschichtsklitterung“
Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, weist in seinem Vortrag die Behauptung eines Irrweges als „unsinnig“ zurück. Er hält sie „für im Grunde fast eine Art Geschichtsklitterung“. Die Fehler der letzten Jahrzehnte in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik, die nun von der Regierung Scholz in „fast verzweifelter Hektik“ korrigiert würden, hätten „so gut wie nichts mit der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs zu tun“.
So sei etwa die verstärkte wirtschaftliche Verflechtung zwischen der alten Bundesrepublik und der damaligen Sowjetunion ein durchaus willkommener Nebeneffekt gewesen, aber keineswegs das Ziel. Die heute gebrauchte Formel „Wandel durch Handel“ sei „total irreführend“ und habe mit der Ostpolitik Brandts wenig zu tun. Die aktuell beklagte „erschreckende energiepolitische Abhängigkeit von Russland“ sei nicht das Ergebnis der Regierung Brandt sondern der Regierungen Schröder und Merkel.
Willy Brandt zeigte sich selbstkritisch
Für Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums Danzig, trägt die SPD mit der Ostpolitik Brandts allerdings auch „ein schwieriges Erbe“. Dazu gehöre die lange Fixierung auf Russland und das Übersehen der Staaten Ost- und Mitteleuropas. SPD-Chef Lars Klingbeil habe dies in seiner außenpolitischen Grundsatzrede deshalb vollkommen zu recht kritisiert. Selbstkritik habe laut Kerski auch Willy Brandt nach 1990 gezeigt. Er habe eingeräumt, die große Rolle der Zivilgesellschaften bei der demokratischen Umgestaltung in Ost- und Mitteleuropa lange nicht gesehen zu haben.
Mehr Selbstkritik hätte sich Markus Meckel, der frühere Außenminister der DDR, auch von Egon Bahr gewünscht, einem der Architekten der sozialdemokratischen Ostpolitik. Meckel ergreift aus dem Publikum das Wort für eine Kurzintervention. Egon Bahrs – nicht Willy Brandts – „Fixierung auf Moskau“ sei ein Fehler gewesen. Meckel berichtet, wie er jahrelang dafür gekämpft habe, dass neue SPD-Chefs erst nach Polen und dann nach Russland reisten. „Es hat sehr lange gedauert“ bis er damit Erfolg gehabt habe. „Und warum? Weil Egon Bahr ein Büro im Willy-Brandt-Haus hatte, bis zuletzt.“ Dort habe er jederzeit Zugang zu den SPD-Chefs gehabt und sie davon überzeugt, „dass Moskau das Zentrum der Außenpolitik ist“. Das sei jedoch „schon Anfang der 90er Jahre falsch“ gewesen.
So endet der Abend also doch noch mit Kritik an der sozialdemokratischen Ost- bzw. Russlandpolitik, allerdings nicht an Willy Brandt. Hierin sind sich dann doch alle einig.