Russland-Politik der SPD

Putins Ukraine-Krieg – War Brandts Ostpolitik ein deutscher Irrweg?

Lars Haferkamp25. Oktober 2022
Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, weist die Behauptung, die Ostpolitik Brandts sei ein Irrweg gewesen, als „unsinnig“ zurück.
Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, weist die Behauptung, die Ostpolitik Brandts sei ein Irrweg gewesen, als „unsinnig“ zurück.
Willy Brandt galt und gilt in der SPD als Ikone. Doch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wird Kritik an seiner Ostpolitik laut. In Berlin gab es dazu nun eine spannende Diskussion – mit einem überraschenden Ergebnis.

Seit Putins Angriffskrieg liegen nicht nur große Teile der Ukraine in Trümmern sondern auch die deutsche Russlandpolitik. Alte Gewissheiten und Grundsätze der sozialdemokratischen Ostpolitik gelten nicht mehr. Mit dramatischen, ja historischen Folgen.

So hat Bundeskanzler Olaf Scholz unmittelbar nach dem russischen Angriff am 24. Februar eine „Zeitenwende“ verkündet und damit eine grundlegende Kurskorrektur der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat in einer viel beachteten Grundsatzrede eine kritische Aufarbeitung und eine Neuausrichtung der sozialdemokratischen Außenpolitik skizziert.

Thierse: Putin verhöhnt alle Werte Brandts

Kein Wunder, dass nun auch die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung darüber diskutiert. Am Montag Abend trafen sich deshalb in Berlin Wissenschaftler*innen, Russland-Expert*innen und Politiker*innen, um über „das (wieder) umstrittene Erbe von Willy Brandts Ostpolitik“ zu diskutieren, so der Titel der Veranstaltung.

„Keiner von uns, vermute ich, wird den 24. Februar dieses Jahres jemals vergessen“, sagt der Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse in seiner Begrüßung. Das Datum markiere einen tiefen Einschnitt. Es habe die Hoffnungen beendet, Europa könne ein Kontinent des Friedens sein und bleiben. Durch „die scheinbar grenzenlose Brutalität Putins“, so Thierse, „mit dieser verbrecherischen Aggression werden alle Werte und Normen verletzt und verhöhnt, für die Willy Brandt gestanden hat: Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität der Staaten, Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Menschenrechte“.

Fehler der Russlandpolitik seit 20 Jahren

Die Kritik an der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sei gegenwärtig laut und heftig. Dabei gebe es auch Stimmen, die in Willy Brandts Ostpolitik „die eigentliche Ursache für Irrtümer und Fehler der deutschen Russlandpolitik der letzten 20 Jahre sehen“. Thierse bezieht hier klar Position: „Diese Kritik befremdet mich schon.“ Es habe lange einen Konsens gegeben, dass die Ostpolitik nicht nur den Frieden in Europa sicherer gemacht, sondern auf lange Sicht auch den Weg zur Deutschen Einheit geebnet habe. „Soll das wirklich ein historischer Irrweg gewesen sein?“

Auf diese Frage gibt Wolfgang Schmidt von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in seinem historischen Rückblick – „ohne unkritisch zu sein“ – eine klare Antwort: „Brandts Ost- und Deutschlandpolitik war gewiss kein Irrweg, sondern überaus erfolgreich.“ Sie habe das Leben von Millionen Menschen in der Zeit der deutschen Teilung erleichtert und dadurch den Zusammenhalt der deutschen Nation erhalten. „Durch ihren Beitrag zum Frieden und zur Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas entstand auch dort Vertrauen in die Bundesrepublik und somit ein neues Deutschlandbild“, so Schmidt. Dies sei ein zentraler Baustein gewesen für die deutsche Wiedervereinigung 1990 unter Zustimmung aller Nachbarstaaten einschließlich der damaligen Sowjetunion.

„Fast eine Art Geschichtsklitterung“

Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, weist in seinem Vortrag die Behauptung eines Irrweges als „unsinnig“ zurück. Er hält sie „für im Grunde fast eine Art Geschichtsklitterung“. Die Fehler der letzten Jahrzehnte in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik, die nun von der Regierung Scholz in „fast verzweifelter Hektik“ korrigiert würden, hätten „so gut wie nichts mit der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs zu tun“.

So sei etwa die verstärkte wirtschaftliche Verflechtung zwischen der alten Bundesrepublik und der damaligen Sowjetunion ein durchaus willkommener Nebeneffekt gewesen, aber keineswegs das Ziel. Die heute gebrauchte Formel „Wandel durch Handel“ sei „total irreführend“ und habe mit der Ostpolitik Brandts wenig zu tun. Die aktuell beklagte „erschreckende energiepolitische Abhängigkeit von Russland“ sei nicht das Ergebnis der Regierung Brandt sondern der Regierungen Schröder und Merkel.

Willy Brandt zeigte sich selbstkritisch

Für Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums Danzig, trägt die SPD mit der Ostpolitik Brandts allerdings auch „ein schwieriges Erbe“. Dazu gehöre die lange Fixierung auf Russland und das Übersehen der Staaten Ost- und Mitteleuropas. SPD-Chef Lars Klingbeil habe dies in seiner außenpolitischen Grundsatzrede deshalb vollkommen zu recht kritisiert. Selbstkritik habe laut Kerski auch Willy Brandt nach 1990 gezeigt. Er habe eingeräumt, die große Rolle der Zivilgesellschaften bei der demokratischen Umgestaltung in Ost- und Mitteleuropa lange nicht gesehen zu haben.

Mehr Selbstkritik hätte sich Markus Meckel, der frühere Außenminister der DDR, auch von Egon Bahr gewünscht, einem der Architekten der sozialdemokratischen Ostpolitik. Meckel ergreift aus dem Publikum das Wort für eine Kurzintervention. Egon Bahrs – nicht Willy Brandts – „Fixierung auf Moskau“ sei ein Fehler gewesen. Meckel berichtet, wie er jahrelang dafür gekämpft habe, dass neue SPD-Chefs erst nach Polen und dann nach Russland reisten. „Es hat sehr lange gedauert“ bis er damit Erfolg gehabt habe. „Und warum? Weil Egon Bahr ein Büro im Willy-Brandt-Haus hatte, bis zuletzt.“ Dort habe er jederzeit Zugang zu den SPD-Chefs gehabt und sie davon überzeugt, „dass Moskau das Zentrum der Außenpolitik ist“. Das sei jedoch „schon Anfang der 90er Jahre falsch“ gewesen.

So endet der Abend also doch noch mit Kritik an der sozialdemokratischen Ost- bzw. Russlandpolitik, allerdings nicht an Willy Brandt. Hierin sind sich dann doch alle einig.

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Kommentare

Brandts Ostpolitik war ein kluger und richtiger Weg!

Scheinbar bleiben nur A. Wirsching und W. Schmidt sachlich und klar. Wer heutzutage glaubt, er könne nachträglich beurteilen, was einst richtig war, versteht von Politik rein gar nichts. Niemand hat heute einen Grund, Asche über sein Haupt zu streuen. Erst recht nicht jene, die viel zu jung sind oder aus anderen Gründen nichts mit der Politik früherer Bundesregierungen zu tun hatten. Wer aber heute Deutschland eine falsche Bündnispolitik zu Staaten wie Polen empfiehlt, dem sei in Erinnerung gerufen, dass Polen Teil der Allianz von Staaten war, die den völkerrechtswidrigen Angriff der USA im Frühjahr 2003 auf den Irak im Dritten Golfkrieg politisch und militärisch unterstützten. Anknüpfend an die Politik Brandts und Bahrs muss man einzig die Interessen Deutschlands vertreten. Das bedeutet vor allem, dass Deutschland aus jedem Krieg herauszuhalten ist. "Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr." [Gustav Heinemann, Dem Frieden dienen (1. Juli 1969)]

Wahrlich

Wenn nun die Abhängigkeit von russischem Gas (Öl und Kohle) durch die totale Abhängigkeit von USamerikanischem Frakinggas platz macht, dann ist meiner Meinung nach nichts gewonnen; außer exorbitanten Preisen und ein Durcheinander auf den internationale Märkten.
Zu Polen und CoKG: Erinnert sich noch jemand an das Verhalten dieser Staaten in der "Füchtlingskrise ? Oder die CIA-Folterlager in diesen Ländern nach nineeleven ? Wie geht es eigentlich den Menschen, die vor einem JAhr an der belorussisch-polnischen Grenze strandeten ? .........
Wer aber bei den Scheichs auf Knien bettelt, dem sind wohl auch die MAßstäbe verrutscht.

Wahrlich

Danke Achim Christ für diesen kurzen, aber treffenden Kommentar.

Wahrlich

Ich kann dem Kommentar von Armin Christ nur zustimmen.

Absolut zutreffender

Absolut zutreffender Kommentar.

USA - Russland

Deutsche Erdgasspeicher sind fast voll, ohne dass Deutschland USamerikanisches Frakinggas gekauft hätte. Ihr vergisst auch, dass Russland zur Bekämpfung des islamistischen Terrors genauso gehandelt hat wie die USA, außerdem hat es in Tschetschenien und Syrien Städte bis auf ihre Grundmauern zerstört.

Guter Bericht, deutlich besser als die Einlassungen Klingbeils.

Lars Klingbeils außenpolitische Positionsbestimmung ist damit auf Zwergenmaß zurechtgestutzt.

Was die letzten 20 Jahre angeht, war keineswegs alles schlecht, wie es hier immer noch dargestellt wird. Die Entwicklungen waren eine logische Folge mehrerer sozialdemoratischer Politikziele:

1. Ausstieg aus der Atomenergie und perspektivischer Kohleausstieg machten Gas als Residualenergieträger für die Übergangszeit der Energiewende zwingend.
2. Günstiges Gas aus Russland war damit das Mittel der Wahl für die Prosperität der deutschen Industrie und damit Voraussetzungen für die Lebensverhältnisse millionen Werktätiger.
3. Steinmeiers Außenpolitik in Sachen Minsk-Verträge war richtig und ist allen voran von der Ukraine konterkariert worden. Dies war die Lösung des Konflikts ohne Krieg und diejenigen, die diese Lösung nicht wollten, waren in der Nato dominant.
4. Gegenüber der zutiefst korrupten Ukraine war Russland der verlässlichere Partner. Ist es mmN noch.

Vernachlässigt wurde, im Zuge der EU-Erweiterung eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit den beitretenden Ländern zu entwickeln. Dies hat man den USA und der Nato überlassen, was sich heute rächt.

Eine andere Zeit und andere Akteure

Seinerzeit war es gut "Tauwetter" in Richtung SU zu ermoeglichen - es gab minimale Verstaendigung zwichen Ost und West und die von den Altvorderen, wie Brandt, unbedingt gewollte Wiedervereinigung war dabei immer im Hinterkopf - mir als Juengerer war die DDR weiter weg als Portugal und das eher egal - ich koennte mich da natuerlich damals geirrt haben, wie ich das heute so sehe, sicher bin ich mir immer noch nicht - bitte keinen Shitstorm deswegen , ist ja eh gelaufen.

Heute hingegen haben wir es nicht mit in gewisser Hinsicht ausbalanciertem Politbuero der KPdSU zu tun, die auch hinter den Kulissen kontraere Meinungen und Vorgehen diskutierten und zu einer "besten" Loesung zu kommen, sondern mit einem "Zarenkomplex" besessenen Machtmenschen mit voellig ergebener Entourage zu tun - das ist eine ganz andere Situation und jeder Vergleich von Brandt's Ostpolitik mit der heutigen Russlandpolitik hinkt aus meiner Sicht ganz gewaltig. Dass man Parallelen in der Vergangenheit betrachtet, das macht jeder historisch interessierte Mensch, kann helfen, aber Brandt beschritt keinen Irrweg sondern handelte einzigartig richtig - seinerzeit! Wie waere der kalte Krieg sonst weiter gegangen?

Interessanter Vergleich

Das Politbüro der KPdSU als Positivbeispiel gegenüber der aktuellen Staatsform und Regierung Russlands herauszustellen ist bemerkenswert. Ich würde da gar nicht widersprechen, aber so eine Aussage ist selten und mutig.

Wo ich nicht zustimmen will, ist dass die russische Regierung und Putin mit "Zarenkomplex" korrekt charakterisiert wird. Höre ich mir Putins Reden an, erlebe ich einen politischen Redner, der seine Positionen entwickelt und überzeugend argumentiert. Der Dialog anbietet (und ohne jahrelang ohne Antwort des Westens leben muss) und erklärt. Kurzum, ich kann ihm gut folgen, auch wenn ich einige Standpunkte nicht teile.

Tatsächlich geht es mir eher bei unseren Regierungen anders. Gerade der Politik der US und der deutschen Regierung fehlt es schon am Willen, sich um eine konsistente Begründung und transparente Interessenanalyse zu bemühen. Da werden mit Phrasen wie "regelbasierte Ordnung" ganze Problemberge wegdiskutiert, statt sie zu lösen.

Willy Brandts eigentlicher Verdienst war m.E. seine Nüchternheit bei der Analyse und Bewertung der Interessen der anderen Regierungen. Und die eigene Positionsbestimmung mit Augenmaß. Also das Gegenteil der aktuellen Phrasen.

Eine andere Zeit ?

Die Handlungsweise von Brandt und Bahr war damals absolut richtig. Und diese Handlungsweise wäre und ist auch HEUTE immer noch richtig.

Was wäre denn die Alternative: Weiteres völlig sinnloses Sterben auf ukrainischer und russischer Seite?
Totale Vernichtung der Infrastrukturen? Kriegsbedingte massivste Umweltschäden bis zur letzten ukrainischen oder russischen Patrone, die nicht mehr oder erst in "2525" geheilt werden könnten?

Irgendwann muss verhandelt werden. Niemand kommt daran vorbei. Oder wollen wir sehenden Auges in den
3. Weltkrieg schlittern? Es ist Aufgabe der Deutschen und der EU unverzüglich Verhandlungslösungen in Gang zu setzen, die beiden Seiten gerecht werden. Die Eskalationssteigerungen beider Kriegsparteien müssen sofort aufhören!
In dieser Sache muss Deutschland - muss die EU notfalls ohne die USA friedensstiftend wirken!

Verhandeln? Worueber denn?

Die Putins duerfen also ihr Nachbarland ueberfallen und wenn's mies laeuft dann Teile der "eroberten" Gebiete behalten - wie Hitler Oesterreich und das Sudetenland. Haette man nach dem Polenfeldzug sagen sollen "behalte den Westteil von Polen und gib Ruhe!" - war doch so aehnlich oder nicht? Dann gings weiter - so wuerde das hier auch weiter gehen, Parallelen der Geschichte sind manchmal doch hilfreich. Der kalte Krieg war kein heisser, zumindest nicht in Europa und die Ausgangsbasis war eine andere: Haben die Sowjets ein Nachbarland ueberfallen und gesagt wir behalten dann mal einen Teil, als Willi Brandt dort aufgelaufen ist? Ich erinnere das anders. Verhandlungen beiden Seiten gerecht werden? Will man UKR voellig ausliefern? Die Soldateska muss vollstaendig raus inkl. Krim. Soll das durchgehen?. Wer eskaliert denn? Beide Seiten? Eher nicht, Kadyrow erinnert mich an Goebbels' 1944 "wollt Ihr den totalen Krieg..." - also alle Staedte mit Atom zerstoeren usw., weil man einige seiner Spiesgesellen hochjagte - deren Leben wuerde ich nicht retten wollen. Die sind in etwa genau so weit. Die EU tut gar nix, denn sie hat keine Arrmy. Angst will RUS schueren und hat Erfolg - bei Ihnen!

Verhandeln? Worüber denn?

Über Frieden für die Ukraine!!

Verhandeln? Worüber denn?

Sehr geehrter Herr Kaperborg,
ich habe mit keiner Silbe den Krieg in der Ukraine gerechtfertigt. Mit keiner. Da gibt es auch NULL und NICHTS zurechtfertigen.

Aber:
Mit WEM wollen Sie denn nach einem potenziellen 3. Weltkrieg zur Rettung von Menschenleben sprechen?
Zur Rettung ukrainischer, russischer und auch deutscher Menschenleben?

Ich lebe in Rheinland-Pfalz in Neuwied in der Nähe von Koblenz. Die US-Stützpunkte Büchel, Ramstein, Spangdahlem liegen alle in Rheinland-Pfalz. Das französische AKW Cattenom liegt ca. 140 km Luftlinie von Neuwied entfernt.
Meinen Sie nicht, dass es sich immer lohnt zu verhandeln? Auch Papst Franziskus würde es immer tun. Auch mit einem Aggressor. Es gibt keinen anderen humanen Weg! Das weitere militärische Aufschaukeln ist völlig sinnlos!

Zu Herrn Kaperborg II

Berichtigung

weitere Ergänzung

martin-niemoeller-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/09/2022-09-14-FR-Gespräch_claudia-gerd_online.pdf

„Brandts Ostpolitik ein Irrweg?“_1

Die deutsche Ostpolitik Brandts und Bahrs ist mit „Wandel durch Annäherung“ sehr griffig aber dennoch nur unzureichend beschrieben. Sie war aber „wegweisend für Frieden und Sicherheit in Europa, ... für die Wiedervereinigung und ... die Osterweiterung der EU“ (Klingbeil, 21.6.). Allerdings ist es nur die halbe Wahrheit, wenn man „die Wiedervereinigung (nicht gleichzeitig mit dem) Zerfall der Sowjetunion (denkt. Mit ihm) war die Richtung klar: Das westliche Modell hatte sich als überlegen gezeigt, der Westen hatte gewonnen“ (Klingbeil, 19.10.). Nato- und EU-Osterweiterung begannen.

Heute steht SPD-Ikone Willy Brandt selbst wegen seiner Ostpolitik in der Kritik. Auf die Tagesordnung gesetzt hat sie mit Vehemenz „Putins Angriffskrieg“, der „alte Gewissheiten und Grundsätze der sozialdemokratischen Ostpolitik“ in „Trümmern“ gelegt und als „Zeitenwende ... eine grundlegende Kurskorrektur der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet“ hat. Deren herausstechendes Merkmal sah die Presse (27./28.2) in einem 100 Mrd. € Sondervermögen für die Bundeswehr und in einer jährlichen Anhebung des Militäretats auf „mindestens“ 2% des BIP.

„Brandts Ostpolitik ein Irrweg?“_2

Klingbeil strich zudem den SPD-Grundsatz, „dass es Sicherheit und Stabilität in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland geben kann“, und verlangte, „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“ (Klingbeil, 21.6.).

Was war eigentlich an der sich in Kontinuität mit Brandt wissenden „sozialdemokratischen Ostpolitik“ zwischen deutscher Wiedervereinigung und Putin-Krieg, die immerhin mit einem Angriffskrieg der Russischen Föderation endete, so falsch, wie Steinmeier und z. B. Klingbeil öffentlich immer wieder behaupten? Ich finde im Text als konkrete Antwort lediglich die „aktuell beklagten ´erschreckenden energiepolitischen Abhängigkeit von Russland´“, während die „Fehler der letzten Jahrzehnte in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik“ konturlos behauptet werden. Rückblickend hat Klingbeil, „Stratege des Jahres“, unseren Fehler identifiziert, dass nämlich „das russische Regime um Putin immer repressiver und aggressiver, ja revisionistisch geworden war“, wir das aber nicht bemerkt haben.

„Brandts Ostpolitik ein Irrweg?“_3

Erklärt seine Wahrnehmung den Ausbruch des Krieges oder „die scheinbar grenzenlose Brutalität Putins“ – und unsere Reaktionen/Sanktionen darauf, die immerhin die „Züge eines indirekt geführten Weltkriegs“ (W. Zellner) angenommen haben? Ist der von Klingbeil gefundene Fehler unserer Ostpolitik wirklich der für den Krieg entscheidende, oder müssen wir eher an ein „Konfliktfeld, dem der Krieg entsprang“ und damit an seinen „geopolitischen Kontext“ (H.-J. Urban, Blätter 7´22) denken? (Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, kennt doch sicher die Einschätzung H. A. Winklers zum Ukraine-Krieg.)

Der Krieg Putins und unsere Reaktionen darauf haben gravierende Wirkungen auf große Teile der Welt. Sie haben das Verhältnis der Nato zu Russland und China in eine „Gegnerschaft, wenn nicht gar Feindschaft“ (v. Lucke) gewandelt mit Folgen, die wir uns gar nicht schlimm genug ausdenken können. Dabei sind die bereits entstandenen kaum noch beherrschbar. (Gar nicht zu sprechen von der durch die Kriegsfurien heimgesuchten Ukraine.)

„Brandts Ostpolitik ein Irrweg?“_4

In einer solchen Situation eine „spannende Diskussion“ darüber zu führen, ob „Brandts Ostpolitik ein Irrweg“ gewesen ist, mit dem Ergebnis, dass „der Abend also doch noch mit Kritik an der sozialdemokratischen Ost- bzw. Russlandpolitik“ endete, „allerdings nicht an Willy Brandt“ – das war für mich das niederschmetternde „überraschende Ergebnis“ des Berichts. Eine - auch aus SPD-Innensicht - Gelegenheit wurde vertan!