Als Egon Bahr am 18. November 1989 umringt von freudestrahlenden Menschen den gerade erst geöffneten Grenzübergang zwischen dem hessischen Wanfried und seiner thüringischen Heimatstadt Treffurt passierte, erreichten die Bilder dieses bewegenden Moments auch mich. Nur 50 Kilometer südlich, in Heringen am Grenzfluss Werra, legte ich damals gerade mein Abitur ab. Die tödliche Grenze zur DDR, auf die ich jeden Tag aus meinem Schlafzimmer geschaut hatte, wurde nun auch bei uns löchrig und schließlich abgerissen. Der Weg für ein vereintes Deutschland und ein geeintes Europa war geebnet. Dass ich mein Leben fortan auf einem Kontinent der Grenzenlosigkeit verbringen konnte, verdanke ich auch der Politik der „kleinen Schritte“, die Egon Bahr schon Jahre zuvor entscheidend mitgeprägt hatte.
2015 verstarb mit Egon Bahr ein großer Sozialdemokrat und Streiter für den Frieden in Europa. Am 18. März hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert. Egon Bahr war vielerlei: Schlüsselfigur in der Aushandlung der Ostverträge, leidenschaftlicher Außenpolitiker, akribischer Architekt einer Sicherheitsarchitektur auf einem Kontinent zwischen zwei Machtblöcken. Schließlich war und blieb er Realist – das war mitnichten ein Manko. Selten verlor er die Wirklichkeit aus den Augen und bemühte sich doch stets darum, sie besser zu machen.
Erfolge mit „Wandel durch Annäherung“
Schon in den frühen 1960er Jahren skizzierte er mit seiner Losung vom „Wandel durch Annäherung“ den Weg, der während Willy Brandts Kanzlerschaft Realität werden sollte: Moskauer und Warschauer Verträge, Grundlagenvertrag, der KSZE-Prozess. Stimmen aus der CDU witterten damals Vaterlandsverrat, die USA beäugten die Brandtsche Ostpolitik, die eben auch eine Bahrsche Ostpolitik war, anfangs mit argwöhnischem Blick, die DDR-Führung wähnte darin gar eine „Aggression auf Filzlatschen“. Bahr hielt Kurs. Am Ende hatte dieses zarte Auftauen Anteil daran, dass das, was zusammengehört, wieder zusammenwachsen konnte. Ob er jemals selbst geglaubt hatte, die deutsche Einheit zu Lebzeiten feiern zu können, wird nur er selbst gewusst haben.
Nun ist der Krieg auf unseren Kontinent zurückgekehrt. In den Wochen und Monaten vor dem russischen Angriff auf die Ukraine haben wir uns immer wieder der Ostpolitik von Willy Brandt erinnert, auf die die SPD zu Recht stolz ist. Aber die jüngsten Ereignisse zeigen doch, dass sich die Zeiten seitdem dramatisch geändert haben. Die vielen Türen für Dialog und Verständigung, die wir Russland so lange offen gehalten haben, wurden von Putin brüsk zugeschlagen und stattdessen mit Waffengewalt beantwortet. Was wir derzeit im Osten Europas erleben, ist eben kein kalter, sondern ein heißer Krieg, durch den sich nicht nur die Menschen in der Ukraine, sondern auch in Polen und in den baltischen Staaten bedroht fühlen.
Michael Roth: Nicht hinter Bahr verstecken
Wir dürfen uns angesichts von grundlegenden Veränderungen in der Welt und in Europa nicht hinter Willy Brandt und Egon Bahr verstecken. Wir müssen ihre Politik weiterentwickeln und an die neuen Realitäten anpassen. Denn Brandt hat auch den Satz gesagt: Jede Zeit will ihre eigenen Antworten. Wir müssen uns der neuen, unfriedlichen Welt stellen, ohne unsere sozialdemokratischen Traditionslinien zu verlassen. Dialogbereitschaft und Wehrhaftigkeit, Westbindung und Teamgeist in der EU, Bekenntnis zu NATO und europäischer Souveränität gehören zusammen.
Seinem Herzensthema der deutsch-russischen Beziehungen blieb Bahr bis zu seinem letzten Atemzug treu, sprach auf Podien und mit Journalist*innen. Ich will nicht verhehlen, dass ich seinen letzten Blick auf Russland nicht unbedingt geteilt habe. Denn Annäherung, auch in kleinen Schritten, kann doch nur da funktionieren, wo es noch Bereitschaft zum ehrlichen Dialog gibt, wo Grenzen nicht verletzt werden, wo kein Krieg gegen Nachbarstaaten geführt wird. Dies war schon damals der Nukleus Brandtscher Außenpolitik und muss auch für uns heute Leitlinie für unseren Umgang mit Moskau sein. Wie nach dem Putinschen Überfall der Ukraine eine Sicherheitsarchitektur ohne Russland aussehen könnte, hätte sicher auch Egon Bahr Kopfzerbrechen bereitet. Gerne hätte ich ihn danach gefragt.
Der SPD hielt Bahr stets die Treue
Der Sozialdemokratie hielt Bahr die Treue und blieb ihr bis zu seinem Tod ein steter Freund, Mahner und Berater. Denn so bedächtig er sich auf dem diplomatischen Parkett bewegte, so leidenschaftlich, klug und diskussionsfreudig erlebten ihn seine Wegbegleiter*innen wenn er sich im Dunst seiner Zigaretten den kleinen und großen Problemen der Weltpolitik hingab. Auf die Frage, warum er 1956 der SPD beigetreten sei, soll er einmal geantwortet haben: „Ich wollte nicht die Welt verbessern, und ich wollte nicht die Banken verstaatlichen. Ich wollte, dass der Frieden bleibt.“ Kaum ein anderes Bekenntnis umschreibt Egon Bahrs politisches Vermächtnis besser.
Der Text erschien zu Egon Bahrs 100. Geburtstag am 18. März 2022.