Film der Woche

Filmtipp „Der vermessene Mensch“: Forscher als Zeuge des Völkermords

24. März 2023
Der Zeitgeist weist dem Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) und der Übersetzerin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) klare Rollen zu.
Der Zeitgeist weist dem Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) und der Übersetzerin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) klare Rollen zu.
Ein ehrgeiziger Wissenschaftler wird Zeuge des Genozides an den Herero und Nama in Afrika: Das opulente Drama „Der vermessene Mensch“ rückt die Verbrechen des deutschen Kolonialismus ins Bewusstsein.

Schädel, immer wieder Schädel stehen im Mittelpunkt. Von Toten und von Lebenden. „Der vermessene Mensch“ führt zurück in die Zeit einer menschenverachtenden Wissenschaft. Indem sie Köpfe zwischen Metallschienen zwangen und Maß nahmen, wollten Forschende Anfang des 20. Jahrhunderts – ganz im Sinne des rassistischen Evolutionismus – nachweisen, dass schwarze Menschen von Natur aus minderbemittelter seien als hellhäutige.

Sie lieferten die „wissenschaftliche Grundlage“ für das Ausplündern der Kolonien in Afrika. Unter den Folgen der Gewaltherrschaft leiden die Menschen dort bis heute. Auch in Namibia, einem der zentralen Schauplätze dieses Filmes. Das deutsche Kinodrama erzählt davon, wie aus Idealismus Opportunismus wird, der moralische Grenzen überschreitet.

Die Berliner Universität, Ende des 19. Jahrhunderts: Alexander Hoffmann ist ein ehrgeiziger Ethnologie-Doktorand. Mit jener Lehrmeinung über „Kolonialvölker“ kann er sich nicht anfreunden. Für ihn sind Unterschiede zwischen Ethnien kulturell bedingt.

Menschenpark in Berlin

Dennoch lässt sich der junge Mann einen besonderen Termin nicht entgehen. Im Rahmen der „Völkerschau“ der „Deutschen Kolonial-Ausstellung“ in Berlin vermissen er und seine Kommilitonen die Köpfe von Angehörigen der Herero und Nama. Eigentlich war die Delegation aus Namibia ins Deutsche Reich gekommen, um eine Audienz beim Kaiser zu bekommen und so eine Verbesserung ihrer Lage zu erreichen.

Das Prozedere ist demütigend. Dennoch entsteht zwischen Hoffmann und der Dolmetscherin Kezia Kambazembi eine besondere Nähe. Einige Jahre später reist Hoffmann nach Namibia. Durchaus in der Hoffnung, die selbstbewusste Frau wiederzusehen. Vor allem aber, um das Leben der Herero und Nama zu erforschen. Längst führen die deutschen „Schutztruppen“ nach Aufständen einen Vernichtungskrieg gegen die unterdrückten Volksgruppen.

Der Genozid zwischen 1904 und 1908 kostete bis zu 60 000 Menschen das Leben. In diesem Inferno mutiert der Idealist Hoffmann zum karrierebewussten Mitläufer. Neben Kunstgegenständen schickt er auch Köpfe und Skelette nach Berlin. Nach dem Motto: Die Menschen schickt man in den Tod, doch was sie hinterlassen, ist gut für das eigene Prestige.

Dunkles Kapitel

Mit seinem Film über ein dunkles, aber weithin vergessenes und filmisch nur selten beleuchtetes Kapitel der deutschen Geschichte verknüpft Regisseur und Drehbuchautor Lars Kraume („Der Staat gegen Fritz Bauer“) viele hehre Motive.

Er will den Deutschen bewusst machen, dass sich ihre Vorfahren während der imperialistischen Kolonialzeit in Namibia „schuldig gemacht haben“, wie es der Schriftsteller Uwe Timm bei einem Preview in Berlin formulierte. Auf dessen Roman „Morenga“ basiert der Film. Im Gegensatz zum positiv besetzten Helden des Buches nimmt Hoffmann allerdings eine entgegengesetzte Entwicklung.

Zudem setzt sich Kraume dafür ein, dass Deutschland den Völkermord in „Deutsch-Südwestafrika“ endlich auch juristisch als solchen anerkennt und den Opfergruppen Gerechtigkeit widerfährt. Dafür braucht es ein tragfähiges Reparationsabkommen mit Namibia. Und die Rückgabe Tausender Schädel aus deutschen Archiven.

Auf Augenhöhe

Vor dem Hintergrund der politischen Intentionen wirft der Film viele Fragen auf. Kraume Inszeniert die Schreckenszeit des Kolonialkrieges ganz bewusst aus deutscher Perspektive und verzichtet dabei auf positive Charaktere. So kommt die Barbarei der Militärs und die Verstrickung der Wissenschaft in die Verbrechen überdeutlich zum Ausdruck.

Im Gegenzug wird – zumindest am Anfang – gezeigt, dass sich die Beherrschten keinesfalls zu willenlosen Objekten degradieren lassen. Die Szenen mit Kambazembi und Hoffmann in Berlin leben von einer besonderen Kraft und Spannung, aber auch von einer Interaktion auf Augenhöhe.

Letztere war Kraume auch bei der Umsetzung und Vermarktung seines Filmes wichtig: In Namibia wurde der Film vor dem deutschen Kinostart vorgeführt und auch ein Großteil der Crew rekrutiert.

Schöne Bilder

Mit dem Wechsel der Szenerie nach Namibia verpufft der Zauber des Anfangs. Wohl gelingen dank der imposanten Landschaft und der sorgfältigen Ausstattung einige schöne Breitwandaufnahmen. Dennoch vergeht einem immer mehr die Lust, dem Ganzen zu folgen. Hoffmanns innere Widersprüche weichen einer wenig glaubhaften, aber umso öderen Eindimensionalität.

Auch die Dialoge halten einen kaum bei der Stange. Diese Schwächen liegen allerdings nicht bei den Darsteller*innen, sondern bei Regie und Drehbuch. Vor allem aber tauchen die Menschen kaum noch auf, für deren Leid Kraume sensibilisieren will: Die überaus starke Figur der Kezia Kambazembi (überragend: die namibische Filmgröße Girley Charlene Jazama) verschwindet fast gänzlich aus der Handlung.

Auch ihre Leidensgenoss*innen agieren nur als Randfiguren. Es mag aus ästhetischen Gründen reiz- und sinnvoll sein, Gewalt und Leid nur andeutungsweise zu zeigen. Die nur mäßig tiefgründige Täterperspektive allein trägt die Geschichte allerdings nicht. Möge der Film trotzdem die Aufmerksamkeit genießen, die sein Thema und Anliegen verlangen.

 

Info: „Der vermessene Mensch“ (Deutschland 2023), Buch und Regie: Lars Kraume, mit Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Sven Schelker u.a.,116 Minuten, ab 12 Jahre

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