Film der Woche

Filmtipp „Dem Leben entgegen“: Gerettet, aber für immer gezeichnet

04. März 2022
Scheinbare Idylle: Für die Zeitzeug*innen ist die Vergangenheit nie vergangen.
Scheinbare Idylle: Für die Zeitzeug*innen ist die Vergangenheit nie vergangen.
Die jüdischen Kindertransporte nach Schweden im Zweiten Weltkrieg waren für viele ein Abschied ohne Wiederkehr: In dem Dokumentarfilm „Dem Leben entgegen“ berichten vier Zeitzeug*nnen, wie diese Zeit ihr weiteres Leben geprägt hat.

Herta Lichtenstein kann sich nicht erinnern, besonders um ihre Eltern getrauert zu haben. „Die Wut, verlassen worden zu sein, war die ganze Zeit da", beschreibt sie ihre Gefühle, als sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vom Schicksal ihrer Familienmitglieder erfuhr, die zunächst in Österreich zurückgeblieben waren. „Es wäre besser gewesen, sie hätten mich mitgenommen, anstatt mich zurückzulassen." Mitgenommen in den Tod, den die Eltern wenige Jahre nach der Ausreise ihrer Tochter nach Schweden fanden.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kamen Herta Lichtenstein und ihr älterer Bruder mit einem der wenigen Transporte von jüdischen Kindern aus dem Herrschaftsgebiet der Deutschen in das neutrale Land. Dort wurden sie in verschiedenen Familien untergebracht. Da war Herta Lichtenstein vier Jahre alt. Ihre Mutter und der Vater starben 1942 in einem Arbeitslager in Polen. Was aus dem anderen Bruder wurde, weiß die ältere Dame bis heute nicht. Es ist eine von vielen Leerstellen, die ihre Lebensgeschichte in ihr hinterlassen hat.

Aufbruch ins Ungewisse

Herta Lichtensten ist eine von vier Zeitzeug*innen, die vor der Kamera über ihr Schicksal im Zusammenhang mit den Kindertransporten berichten. Drei Frauen und ein Mann erzählen davon, wie Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland und Österreich Ende der 1930er-Jahren ausgegrenzt und terrorisiert werden. Wie die Ausreise nach Schweden zu einem Abschied für immer und zu einem Aufbruch ins Ungewisse wird. Wie Antisemitismus und Gleichgültigkeit den Kindern auch dort zusetzen. Vor allem aber, wie der Neuanfang ohne Eltern in einem fremden Land ihr Leben und ihre Identität auf den Kopf stellt. Und wie die Scham, überlebt zu haben, oder die damalige Wut auf ihr Jüdischsein sie bis heute beschäftigen.

All diese Nuancen werden in den Selbstzeugnissen unterschiedlich gewichtet, bilden aber einen gemeinsamen Rahmen. Die deutsch-schwedische Filmemacherin Gülseren Şengezer gibt den Menschen viel Zeit und Raum, um ihr Schicksal anschaulich zu vermitteln und individuelle Akzente zu betonen. So lässt sich die Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik der Nazis aus der Perspektive von besonders jungen Betroffenen verfolgen.

Eine Vergangenheit, die niemals vergeht

Die Aufmerksamkeit gehört ganz den Kindern von damals. Die Kamera kommt ihnen sehr nahe, wenn sie im heimischen Wohnzimmer ihre Erfahrungen schildern und von Emotionen überwältigt werden. Oder auch merkwürdig distanziert wirken. Schnell wird klar: Diese Vergangenheit ist für sie niemals vergangen.

Nur vereinzelt sind Archivaufnahmen zum historischen Kontext zu sehen. In einem Film, der sonst ohne Off-Kommentar auskommt, liefern die Erzählungen der Protagonist*innen an diesen Stellen erhellende Kommentierungen. Lange Einstellungen von schwedischen Landschaften spiegeln die innere Leere, aber auch die wechselvollen Gefühlslagen der Protagonist*innen wider.

Ein bisschen Hoffnung

Der Film stiftet indes auch Hoffnung. Eine Zeitzeugin fand ihre Eltern wieder und kehrte mit ihnen nach Wien zurück. Die anderen Gesprächspartner*innen blieben in Schweden. In einem Land, dessen Sprache sie auch vor der Kamera sprechen. Doch ein Rest von Fremdheit scheint geblieben zu sein.

Der Film geht auch auf ein unerträgliches politisches und moralisches Versagen der internationalen Welt ein. 1938 trafen sich Vertreter von 32 Nationen in Frankreich, um die Möglichkeiten zur Aufnahme von verfolgten Juden auszuloten. Mit Ausnahmne der Dominikanischen Republik sprachen sich alle vertretenen Staaten dagegen aus. Trotzdem gelangten später rund 20.000 jüdische Jungen und Mädchen über Kindertransporte in diverse Länder, mehr als 10.000 von ihnen erreichten Großbritannien. Schweden erklärte sich bereit, maximal 500 Kindern Obhut zu geben.

Zeitloses Thema angesichts Putins Krieg

Gerade diese Makroebene bildet eine Brücke in die Gegenwart. Nicht nur, aber gerade angesichts von etwa einer Million Menschen, die bislang die Flucht vor Putins Krieg in der Ukraine ergriffen haben. Die Frage, wie eine Gesellschaft, aber auch jede und jeder von uns mit Menschen in größter Not umgeht, ist zeitlos.

Diesen Aspekt unterstreicht auch Gülseren Şengezer. Die 1974 geborene Journalistin mit kurdischen Wurzeln kam mit sechs Jahren nach Deutschland. „Aufgrund meiner eigenen Biografie, in der Verwandte bei Massakern ermordet wurden, und der kurdischen Geschichte insgesamt, hat mich die lange Verfolgung von Juden stets berührt", sagt sie laut Presseheft. „Mit diesem Film begebe mich auch ein Stück weit auf die Suche nach Antworten auf die eigenen brennenden Fragen nach den Folgen der eigenen Unterdrückung und des Ausgegrenztseins.“ Anhand ihres berührenden und sehr behutsamen Dokumentarfilms zeigt sich erneut, welche Lehren der Blick in die Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft offenbart.

Info: „Dem Leben entgegen – Kindertransporte mach Schweden" (Schweden/Österreich 2019), ein Film von Gülseren Şengezer, mit Hans Wiener, Herta Lichtenstein, Elise Reifeisen-Hallin, Gertraud Fletzberger, OmU, 94 Minuten, ab 12 Jahre
gmfilms.de
Jetzt im Kino

weiterführender Artikel