Im Rückspiegel

Vor 80 Jahren: Die Kennzeichnungspflicht per Judenstern tritt in Kraft

Stefanie Schüler-Springorum19. September 2021
Gezielte Stigmatisierung: Ab dem 19. September 1941 waren alle über sechs Jahre alten jüdischen Kinder, Männer und Frauen verpflichtet, in der Öffentlichkeit den gelb-schwarzen Judenstern sichtbar auf der Kleidung zu tragen.
Gezielte Stigmatisierung: Ab dem 19. September 1941 waren alle über sechs Jahre alten jüdischen Kinder, Männer und Frauen verpflichtet, in der Öffentlichkeit den gelb-schwarzen Judenstern sichtbar auf der Kleidung zu tragen.
Jüdinnen und Juden sollten gezielt stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Am 19. September 1941 trat die Kennzeichnungspflicht per Judenstern in Kraft. Vereinzelt erreichte sie jedoch genau das Gegenteil.

Am 19. September 1941, vor genau 80 Jahren, trat eine der letzten schriftlichen antijüdischen Verordnungen des Deutschen Reiches in Kraft, die am 1. September erlassene Kennzeichnungspflicht. Diskutiert hatte man über dieses Mittel der öffentlichen Segregation der jüdischen Bevölkerung schon zu Friedenszeiten, war aber damals, 1938, aufgrund außenpolitischer Bedenken noch davor zurückgeschreckt.

Nach dem Überfall auf Polen wurde dort ab November 1939 das Tragen einer weiß-blauen Armbinde für alle jüdischen Männer und Frauen zur Pflicht und in der Berliner Stadtverwaltung dachte man über die Einführung einer Kennzeichnung für jüdische Zwangsarbeiter ebenso nach wie die deutschen Besatzer im „Protektorat Böhmen und Mähren“. Von dort aus ging schließlich – auf Staatssekretärsebene – die Initiative aus, die, unterstützt von den Ministern Frick und Goebbels, dazu führte, dass Hitler diesem Vorhaben Mitte August 1941 seine Zustimmung erteilte und eine für die gesamte jüdische Bevölkerung im Großdeutschen Reich geltende Polizeiverordnung von den Juristen im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ausarbeiten ließ.

Der Stern nahm das Gefühl, „normal“ zu sein.

Von nun an waren alle über sechs Jahre alten jüdischen Kinder, Männer und Frauen verpflichtet, in der Öffentlichkeit den gelb-schwarzen Judenstern sichtbar auf der Kleidung zu tragen, den sie für 0,10 Reichsmark bei den Jüdischen Gemeinden erwerben mussten. Der damals dreizehnjährige Michael Wieck hat die psychologische Wirkung dieser Stigmatisierung, nicht nur, aber gerade auch für Kinder und Jugendliche, eindringlich geschildert: „Es begann eine Zeit, in der es nun nicht mehr möglich war, so zu tun, als wenn man dazugehörte, oder anders gesagt, zeitweise zu vergessen, dass man nicht dazugehörte – es kostete große Überwindung, als Gekennzeichneter die Strasse zu betreten … was bei einem neurotischen Menschen der Fall sein kann – alle Menschen nun im Hinblick auf sich selbst zu betrachten – bewirkte der gelbe Stern. Er nahm jede Unbefangenheit und das Gefühl, ‚normal‘ zu sein.“

Normal war tatsächlich schon lange nichts mehr im jüdischen Alltag in Deutschland, denn seit Kriegsbeginn wurden immer neue Schikanen über die im Reich und im Protektorat lebenden Juden verhängt: Schon Ende 1939 hatte man ihnen Autos, Fahrräder, Radios und Telefone ebenso untersagt wie Zeitungs-Abonnements, Haustiere und Blumen. Nach acht Uhr abends durfte man nicht mehr auf die Straße, bestimmte Plätze und Einrichtungen durften sie nicht mehr besuchen, Kino, Theater und Schwimmbäder schon lange nicht mehr, nun auch keine Grünanlagen oder Spielplätze. Verschärft wurde all dies durch die Rationierung der Lebensmittel und die drastisch reduzierten Waren und Einkaufszeiten für Juden, später durch die Zwangszusammenlegung in sogenannten Judenhäusern und schließlich, im März 1941, durch die flächendeckende Einführung der Zwangsarbeit für alle jüdischen Männer und Frauen.

Jüdische Menschen wurden zu Freiwild

Und dennoch: Solange es den Stern nicht gegeben hatte, hatten sich Jüdinnen und Juden tagsüber noch unbeachtet bewegen können, man schlich sich eben heimlich ins Kino, in den Park, zum Baden – und gerade Jugendliche versuchten, dies auch weiterhin zu tun, indem sie ohne Stern auf die Straße gingen, nun aber unter Lebensgefahr. Andere verdeckten das Zeichen in der Öffentlichkeit durch „Kragen, Taschen oder Aktenmappen“, wie es in einer Warnung der Berliner Gestapo einige Wochen später hieß.

Viele reagierten auf die Einführung des Sterns mit dem trotzigen Stolz von Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten, die meisten aber empfanden ihn als Stigmatisierung, die sie als Freiwild auf der Straße den Pöbeleien gehässiger Mitmenschen aussetzte. „Wieder sieht man die jüdischen Menschen mit steinernen Gesichtern durch die Straßen gehen“, schrieb die Münchnerin Else Behrend-Rosenfeld in ihr Tagebuch, „mit Augen, die alles und alle hindurchzusehen scheinen, viele mit gesenktem Kopf, manche aber auch (…) mit stolz erhobenem Haupte.“

Solidarätsaktionen mit gekennzeichneten Jüd*innen

Auch für Nichtjüd*innen war es leichter gewesen, das peinliche Schicksal ehemaliger Freund*innen und Nachbar*innen zu übersehen oder zu verdrängen. Und so war die erste Reaktion in der Bevölkerung, die überall vom SD, dem Geheimdienst der SS, aufmerksam verfolgt und notiert wurde: Was, so viele Juden gibt es noch? Wir dachten, die seien schon alle weg! Die Kennzeichnung durch den Judenstern am Vorabend der Deportation hob die von beiden Seiten gewahrte Anonymität auf, wie sie zumindest in der Großstadt noch möglich gewesen war. Jüdinnen und Juden waren jetzt wieder offen mit dem Hass oder der Gleichgültigkeit, viel seltener mit dem Mitleid ihrer Nachbar*innen konfrontiert.

Hier und dort mag es kleine Akte der Solidarität gegeben haben, wie etwa das Aufstehen in der Straßenbahn, um einer gekennzeichneten älteren Dame den Sitzplatz zu überlassen, aber dies waren absolute Ausnahmen. Nicht so allerdings im deutsch besetzten Ausland: In Prag zum Beispiel machte sich die Gestapo Sorgen über den sich häufenden betont freundlichen Umgang mit den Gekennzeichneten, der auch als Akt des Widerstands gegen die Besatzer galt. Und im bosnischen Sarajevo ging die Muslima Zejneba Hardaga ostentativ mit ihrer jüdischen Freundin Rifka Kavilio Arm in Arm auf der Hauptstraße spazieren, ihren schwarzen Gesichtsschleier gekonnt über Rifkas Judenstern platzierend. Das Foto kann man heute im Jüdischen Museum Sarajevo bewundern, Zeineba wurde nach dem Krieg von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt.

Kolumne des SPD-Geschichtsforums

Unter dem Titel „Im Rückspiegel“ beleuchten wechselnde Autor*innen des Geschichtsforums historische Ereignisse, die für die SPD bedeutend sind. Im Rückspiegel eines Autos sieht man bekanntlich nach hinten, aber wenn man ihn etwas kippt bzw. dreht, sieht man sich selbst. Um Vergangenheit und Gegenwart soll es in der Kolumne gehen.

weiterführender Artikel